Die Wassermuehle
Mülltonne stehenbleibt.“
Vivienne sah sie strafend an.
Aus dem Container schlängelten sich zwei ausgefranste Elektrokabel. Sie waren rot und blau und endeten neben einem weißen Schildchen mit der Aufschrift: Rubbish, 9.000 €.
„Was würdest du sagen, wenn Wolfgang dir für Christoph-Sebastians Machwerke zehnmal soviel zahlen würde?“, fragte Hedi.
„Ich habe dir bereits erklärt, was ich davon halte!“
„Wo, bitte, liegt der Unterschied zwischen einem schmutzigen Mülleimer und einer schmutzigen Leinwand?“
„In der Intention des Künstlers. Kunst kommt nämlich nicht von Können, sondern von Müssen. Sie ist ein Gefühl, das ein Mensch durchlebt hat, und das er so auszudrücken vermag, dass es auf andere Menschen übertragen wird.“
„Das trifft doch auf Christoph-Sebastians Produkte irgendwie auch zu, oder?“
„Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele. Und während ich male, lasse ich meinen Körper vor der Tür, wie die Moslems ihre Schuhe vor der Moschee.“
„Sagt wer?“
„Picasso.“
„Könntest du nicht eine Ausnahme machen? Wir brauchen das Geld.“
Vivienne ging vor dem Müllcontainer in die Hocke und studierte das blaue Kabelstück, das eine Handbreit über das rote hinausragte. „Wolfgang kann die Bilder gerne haben. Solange er sie nicht unter meinem Namen verkauft.“
„Herrje! Ich habe ihm aber schon gesagt, dass sie von dir sind.“
„Dafür kann ich nichts. Schau dir das mal an. Vielleicht verstehst du dann, was ich meine.“ Als Vivienne ansetzte, die tiefere Bedeutung von roten und blauen Elektrokabelenden zu erläutern, platzte Hedi der Kragen.
„Du glaubst nicht im Ernst, dass auch nur die Hälfte der Besucher einen Dunst hat, was hier Kunst ist und was nicht!“
„Du bist ignorant.“
„Soll ich es dir beweisen?“
„Und wie, bitte?“
„Betrachte deine bedeutungsschweren Exponate und wart’s ab.“
Etwa fünf Minuten später kamen zwei Pärchen herein. Die Frauen waren Mitte zwanzig und trugen kurze Röcke. Die Männer waren um die fünfzig und dezent in Grau gekleidet. Hedi setzte ein gelehrtes Gesicht auf und ging zu ihnen. Ob die Herrschaften an einer kleinen kostenlosen Führung interessiert seien?
„Aber gerne“, sagte einer der Männer. „Oder was meinst du, Clarissa?“
Clarissa blätterte im Ausstellungskatalog und nickte eifrig. Hedi steuerte zwei leere Coladosen an, die durstige Besucher auf einer Fensterbank hatten stehen lassen.
„Wissen Sie, das Besondere dieser Ausstellung liegt darin, dass einige Objekte nicht im Katalog aufgeführt sind. Es ist Spontankunst; arrangiert, als hätte der Zufall die Hand im Spiel gehabt, unauffällig und gerade dadurch von besonderer Aussagekraft.“
Clarissa bestaunte die Coladosen mit einer Ehrfurcht, als ob die Kronjuwelen des Britischen Königshauses vor ihr ausgebreitet wären. Aus den Augenwinkeln heraus sah Hedi, dass Vivienne sie beobachtete. „Der Künstler, ein sehr hoffnungsvolles Talent, das sicherlich noch von sich reden machen wird, möchte, dass sich die Menschen seiner Kunst unbefangen nähern, und es liegt in seinem Sujet begründet, dass sich jede Katalogisierung verbietet.“
„Mhm“, sagte der Mann neben Clarissa.
Hedi lächelte ihm zu. „Dieses Arrangement trägt den Titel Das Vergessen.“
Zwei ältere Damen näherten sich neugierig. Hedi durchquerte den Saal und blieb im Durchgang zum zweiten Ausstellungsraum stehen. Hier und da hatten Besucher Spuren an der weißen Wand hinterlassen. In Augenhöhe an der rechten Seite hatte jemand den Namen seiner Liebsten in den Putz geritzt. Um den Schriftzug herum waren schmutzige Fingerabdrücke zu erkennen.
Hedi räusperte sich. „Und hier sehen Sie eine weitere Arbeit, die dem unaufmerksamen Betrachter überhaupt nicht ins Auge fällt.“
In den Gesichtern der inzwischen auf acht Personen angewachsenen Gruppe spiegelte sich der Stolz, diffizile Kunst auf Anhieb erkannt zu haben. Hedi erläuterte, dass das Objekt Gedächtnisspuren ein autobiografisch beeinflusstes Werk eines jungen, sehr talentierten Künstlers sei, der im Alter von sechs Jahren von seinen Eltern verstoßen und als Heim- und Pflegekind durch viele Türen geschickt worden war, ohne jemals irgendwo ein Zuhause zu finden. „Gedächtnisspuren ist ein Versuch, dieses Kindheitstrauma zu bewältigen.“
Clarissa bekam feuchte Augen.
„Schmutzstreifen auf der Seele, Kratzer im Gemüt, all die Schrammen, die Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden
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