Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Derek, du hast genau das Richtige getan. Es wäre sinnlos gewesen, es noch schlimmer zu machen. Mir haben sie erzählt, sie hätten dich zurück nach Puerto Rico verfrachtet und dich dann in ein Flugzeug nach Montreal gesetzt. Ich bin froh, dass du es geschafft hast.«
»Hey, und was ist mit dir? Alles in Ordnung?«
»Könnte schlimmer sein.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Deshalb rufe ich an.«
Sie hörten eine Durchsage im Hintergrund. »Mein Flug wird aufgerufen.«
»Es dauert nicht lange. Hast du was zum Schreiben?«
»Nein. Ich schaue, ob ich was auftreiben kann.«
»Nicht nötig«, sagte sie schnell. »Schalte dein Handy aus, nachdem wir aufgelegt haben. Ich rufe dich zurück und hinterlasse dir auf der Mailbox eine Nachricht mit Namen und Telefonnummern. Derek, hör mir zu – du musst in den nächsten 24 Stunden unbedingt erreichbar bleiben. Vielleicht musst du etwas für mich abholen, also sorg bitte dafür, dass dein Handy aufgeladen und eingeschaltet ist. Falls ich mitten in der Nacht anrufe, will ich dich sicher erreichen können. Im Moment bist du mein Rettungsanker.«
»Das Wort gefällt mir nicht.«
»Jetzt übertreib mal nicht«, sagte sie mit einem leichten Lachen.
»Aber das mit dem ›erreichbar sein‹ ist kein Scherz, oder?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Verdammt, Ava …«
»Okay, Derek, das genügt. Du musst deinen Flug kriegen und das Handy ausmachen. Wenn du nichts von mir hörst, sei nicht enttäuscht, und mach dir keine Sorgen.«
Sie legte auf. Als sie nach zwei Minuten erneut anrief, wurde sie direkt zur Mailbox durchgestellt. Langsam und ausführlich erklärte sie ihm, was er tun sollte.
35
A va saß einen Augenblick ruhig da und sammelte sich, wobei sie sich der Kamera bewusst war, die jede ihrer Bewegungen einfing. Zeit, ihre Aufmerksamkeit wieder Jeremy Bates zuzuwenden. Obwohl das Gespräch gut verlaufen war, wusste sie, dass ihr das Schwerste noch bevorstand. So vieles konnte noch schiefgehen. Schon der kleinste Zweifel oder die Worte »Das muss ich vorher mit Mr. Seto besprechen« genügten, und alle Pläne der Welt nützten nichts mehr. Wie konnte ich nur glauben, dass es funktioniert? , dachte sie, doch dann schüttelte sie den Kopf und fing sich wieder. Es wurde immer anstrengender, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Neben dem, was bei Bates schieflaufen konnte, gab es immer noch Robbins. War sie zu weit gegangen, als sie Onkel angerufen hatte? Nein, sagte sie sich, immerhin hatte sie noch Plan B, und Onkel ließ sie nie im Stich. Auf einmal fiel ihr Tommy Ordonez ein. Zum Glück war Onkel während des Gesprächs nicht dazu gekommen, ihn zu erwähnen, aber jetzt drängte er sich wieder in ihr Bewusstsein – das Pech verfolgte sie immer noch. Sie schob den Gedanken beiseite.
Eins nach dem anderen , dachte sie. Steh auf, geh zur Tür und öffne sie.
Der Flur war leer, sie entdeckte allerdings eine offene Tür und hörte Bates sagen: »Sieht gut aus.« Als sie zurück zu ihrem Stuhl ging und sich setzte, hob sich ihre Laune.
Gleich darauf kam er zurück, in der einen Hand den Aktenordner, in der anderen einen Stapel Papiere. »Da hätten wir alles«, bemerkte er und legte die Papiere vor sie auf den Tisch. »In dreifacher Ausfertigung. Eine für Mr. Seto und Sie und zwei für mich.«
Sie blätterte die Dokumente durch. Die Überweisungsanträge sahen perfekt aus. Fehlte nur noch Setos Unterschrift. Sie hatten Kopien seines Passes, des Hongkonger Ausweises und des Washingtoner Führerscheins angefertigt. Das bedeutete insgesamt fünfzehn Unterschriften. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie schwierig das werden würde.
»Ich hoffe, wir schaffen es, Ihnen alles in ein paar Stunden zurückzugeben.«
»Ms. Lee …«
»Bitte nennen Sie mich Ava.«
»Und Sie mich Jeremy«, erwiderte er mit einem kleinen Lächeln. »Was ich sagen wollte, Ava, es wäre ideal, wenn Mr. Seto die Dokumente persönlich vorbeibringen könnte.«
Die Tatsache, dass sie auf die Bitte vorbereitet war, machte es nicht leichter. »Jeremy, ich tue natürlich mein Bestes, um das zu ermöglichen, es ist allerdings schwer einzuschätzen, in welcher Verfassung er sein wird.«
»Tja, wir können warten, wissen Sie. Das alles muss ja nicht heute erledigt werden.«
»Doch, muss es«, sagte sie sachlich. »Wir dürfen den Abschluss nicht verzögern. Wenn wir die Deadline verpassen, legen die Chinesen das als Zeichen von Schwäche aus. Wir werden zu einer weiteren
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