Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
begab.
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A va schlief schlecht, auch weil sie zu früh ins Bett gegangen war. Nicht aus Erschöpfung, sondern aus Langeweile. Jeremy Bates war aus dem Weg, das Geld nach Hongkong überwiesen und die Sache mit Captain Robbins schon halb erledigt. Ihr Verstand arbeitete auf Sparflamme. Robbins hing schon wieder vor dem Fernseher herum, und sie würde ihm bestimmt keine Gesellschaft leisten. Sie hatte weder Handy, noch wollte sie um Erlaubnis bitten, den Computer wieder anstellen zu dürfen. Blieb der Balkon mit Ausblick auf den Hafen, doch der Unterhaltungswert schaukelnder Schiffe hatte seine Grenzen, besonders im Dunkeln. Gegen neun schaute sie nach Seto. Er schlief nach wie vor, aber vermutlich würde die Wirkung des Chloralhydrats bald nachlassen, deshalb band sie ihm wieder die Knöchel zusammen und klebte ihm den Mund zu. Dann ging sie ins Schlafzimmer und schlug Tai-Pan auf.
Nach kaum einer Viertelstunde Lesen fielen ihr die Augen zu. Als sie kurz nach Mitternacht zum ersten Mal aufwachte, lag sie auf der Bettdecke, und das Licht war noch an. Sie öffnete die Schlafzimmertür und sah Robbins, der auf dem Sofa vor laufendem Fernseher eingeschlafen war und vier leere Bierflaschen vor sich auf dem Couchtisch stehen hatte. Sie ging kurz auf die Toilette, machte das Licht im Schlafzimmer aus und schlüpfte erneut unter die Decke.
Zuerst konnte sie nicht einschlafen; Gedanken an den folgenden Tag gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf. Energisch schob sie sie beiseite, doch Tommy Ordonez ließ sich nicht so leicht verdrängen. Hoffentlich musste sie nicht auf die Philippinen. In Guyana hatte sie fürs Erste genug Entbehrungen erlebt. Dann drängte sich Captain Robbins in ihr Bewusstsein. War sie bei ihm zu weit gegangen? Nein, dachte sie, von seiner Gier einmal abgesehen, hatten sie sich auf einer bestimmten Ebene verstanden. Er wusste, wie es wirklich lief, was die Menschen dazu brachte, Dinge zu tun, die sie normalerweise nicht taten – die richtigen Dinge aus den falschen Gründen. Obwohl sich seine Definition von richtig und falsch vielleicht dramatisch von ihrer unterschied. Trotzdem, sie waren auf einer Wellenlänge gewesen, hatten einander ein gewisses Maß an Respekt entgegengebracht, auch wenn er sich nicht unbedingt auf das bezog, was der jeweils andere tat. Es ging mehr um ihren Modus Operandi. Stil , dachte Ava – sie mochten den Stil des anderen.
Um halb drei wachte sie zum zweiten Mal auf. Zehn Minuten lang versuchte sie, wieder einzuschlafen, bevor sie aufgab, das Licht anmachte und erneut Tai-Pan zur Hand nahm. Nach einer Stunde Lesen war sie müde genug, um das Licht auszuschalten und einen erneuten Versuch zu starten.
Als sie die Augen aufschlug, dämmerte es bereits. Sie sah auf die Uhr: zehn nach sechs. Sie schloss die Augen und begann ein Gebet an St. Judas Thaddäus, wurde aber von der Ouvertüre aus Wilhelm Tell unterbrochen, die weiter und weiter plärrte und schließlich verstummte. Durch den Türspalt sah sie, dass Robbins schlief. Der Klingelton kam ihr lauter vor als sonst, hatte ihn aber nicht geweckt. Ihr erneutes Gebet wurde wieder vom Klingeln gestört. »Geh schon ran«, murmelte sie. Wie aufs Stichwort brach die Melodie ab, und sie hörte ihn sagen. »Was gibts?«
Als sie fast fertig war, klopfte er an ihre Tür.
»Ja?«, sagte sie.
»Mein Bruder will Sie sprechen«, sagte Robbins.
Um diese Zeit? – ein ungutes Gefühl beschlich sie. Warum rief er so früh an? War in Hongkong irgendetwas schiefgelaufen? Nein , dachte sie. Onkel ließ sie nicht im Stich. »Ich komme.«
Ein paar letzte Worte an Judas Thaddäus, wobei der Name Robbins zum ersten Mal in einem ihrer Gebete auftauchte, dann ging sie zur Tür.
»Hier«, sagte Robbins, drückte ihr das Telefon in die Hand, drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer.
Ava setzte sich gegenüber vom Balkon in die Küche; draußen glitzerte der Hafen in der Morgensonne. »Guten Morgen, Captain.«
»Guten Morgen, Ms. Lee.«
»Es ist reichlich früh für einen Anruf.«
»Nun, ich bin zu aufgebracht, um zu schlafen.«
Ihr kam eine düstere Vorahnung. »Wieso das?«
»Die Überweisung aus Hongkong.«
»Haben Sie sie nicht bekommen?«, fragte sie, und ihr Unbehagen wuchs.
Er schwieg. »Ich habe die Kopie einer Kopie bekommen. Per E-Mail und Fax.«
»War der Betrag falsch? Oder das Datum? Gab es einen Fehler bei den Bankinformationen?«
Betont langsam sagte er: »Ms. Lee, ich weiß nicht, was mich mehr ärgert,
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