Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
hatte Ava hin und her überlegt, wie sie sich Seto nähern sollte. Sie erwog, ihn anzurufen und unter dem Vorwand, Meeresfrüchte kaufen zu wollen, ein Treffen mit ihm zu arrangieren, aber der Plan hatte mehrere Schwachstellen: Erstens hatte sie zu wenig Ahnung von der Branche, um bei einem längeren Gespräch überzeugend zu sein, und zweitens, warum sollte jemand völlig ohne Vorbereitung nach Guyana reisen, um Meeresfrüchte zu kaufen?
Nein, der erste Kontakt musste zufällig wirken. Bei Antonelli hatte es nicht geklappt, aber der stand auf Ladyboys. Wenige heterosexuelle Männer hatten kein Interesse an Ava. Sie musste einen Weg finden, in Setos Nähe zu gelangen, danach würde sie improvisieren.
In der Lobby fragte sie nach dem Portier oder dem Pförtner, die beide nicht im Dienst waren. »Sie haben Pause. Um eins müssten sie zurück sein«, sagte die Frau.
»Ich muss ein paar Besorgungen machen. Gibt es hier in der Nähe ein Einkaufszentrum?«
»Am besten gehen Sie zum Stabroek Market, die Straße runter und dann rechts. Sie können ihn nicht verfehlen – halten Sie nach dem großen Uhrenturm Ausschau.«
»Ja, den habe ich schon gesehen.«
»So würde ich aber nicht hingehen«, sagte die Empfangsdame.
Ava hatte Turnschuhe, Jogginghose und ein T-Shirt an. »Wieso nicht?«
»Es ist der Schmuck. Den sollten Sie hier lassen.«
Sie trug ihr goldenes Kreuz, eine Cartier-Uhr und ein Jadearmband. »Obwohl es helllichter Tag ist?« fragte sie zweifelnd.
»Das ist egal. Die Uhr – ist die echt?«
»Ja.«
»Dachte ich mir. So was zieht Diebe magisch an. Sie werden jede Menge unerwünschter Aufmerksamkeit erregen, und die Kette und das Armband sind Sie dann auch gleich los.«
Ava nahm die Sachen ab, steckte sie in ihre Hosentasche und machte den Reißverschluss zu. »Besser?«
»Seien Sie trotzdem vorsichtig.«
Draußen schlug ihr drückende Hitze entgegen, und sie überlegte, den Hotel-Jeep zu nutzen, aber da der Uhrenturm in Sichtweite war, nahm sie an, zu Fuß werde es höchstens zehn Minuten zum Starbroek Market dauern. Alles war gut, bis nach etwa hundert Metern die Meeresbrise abflaute. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne brannte erbarmungslos und wurde vom Asphalt reflektiert; die Hitze schien sogar durch ihre Schuhsohlen zu dringen. Ihre Augen brannten, der Schweiß brach ihr aus, tropfte ihr von der Nase und rann ihr die Beine hinab. Es war heißer als in Bangkok und schwüler als im Hongkonger Sommer, vom Geruch ganz zu schweigen: Sie hielt die Luft an, wenn sie an stinkenden Abfällen und Hundekot vorbeikam.
Kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, war die Luft plötzlich von Summen erfüllt, einem Gewirr aus den Stimmen der Feilschenden und hupenden Autos. Schließlich kam der Stabroek Market voll in Sicht. Die Markthalle war riesig, sechzig- bis achtzigtausend Quadratmeter groß; sie war, wie Jeff beschrieben hatte, komplett mit rotem Eisen verkleidet und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Stahlwerk als mit einem Markt.
Die Geräuschkulisse stammte vom zweiten Markt rings um das Gebäude, auf dem Menschen auf Tischen und mit Planen überdachten Ständen dicht an dicht ihre Waren zum Verkauf anboten. Die Menschenmassen mussten den Fahrrädern und Bussen ausweichen, die das Gelände umfuhren. Ava schob sich vorbei an Bergen von Ananas, Kochund normalen Bananen, Kokosnüssen, Okraschoten, Süßkartoffeln, Stangenbohnen und Spinat, an Schweine- und Ziegenhälften und gackernden Hühnern in Käfigen. Es wurden auch Kleider verkauft, allerdings keine kopierten Markenartikel wie auf den meisten asiatischen Märkten, sondern Second-Hand-Ware, die aussah, als sei sie von einer Wohltätigkeitsorganisation in den Industrienationen gesammelt und pfundweise an einen Händler verscherbelt worden. Anscheinend bestand hier Nachfrage nach Pullovern der Toronto Maple Leafs.
Auf der Suche nach einer Klimaanlage und etwas zu essen begab sich Ava ins Innere der Markthalle. Hier und da gab es ein kühleres Fleckchen, und dort blieb sie stehen, während sie überlegte, was sie essen sollte. Sie ging an den Imbissständen vorbei und versuchte sich zwischen Hähnchen-, Enten-, Lamm- und Ziegencurry, Reis und Bohnen sowie Roti zu entscheiden. Sie wollte gerade ein Curry probieren, da entdeckte sie einen vegetarischen Stand und bestellte drei Linsenbratlinge mit heißer Sauce, dazu Mauby, einen einheimischen Softdrink, der unter anderem aus Baumrinde hergestellt wird.
Nach dem Essen schlenderte sie über den Markt.
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