Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Er war vielseitig, um es milde auszudrücken. Die meisten Obst-, Gemüse- und Fleischsorten, die draußen angeboten wurden, gab es auch drinnen, ebenso wie noch mehr Second-Hand-Kleider, Schuhe, Möbel, Geschirr, Haushaltsgeräte, Fisch, Shrimps und überraschend viel Gold. Sie hatte von den guyanischen Goldvorkommen gelesen, und hier lag es nun, abgebaut, veredelt und zu den protzigsten Klunkern verarbeitet, die Ava je gesehen hatte: riesige, klobige Halsketten, Armbänder mit Sternzeichen-Anhängern und kommerziellen Markenlogos von Nike, Calvin Klein und Chanel. Geschmacklos oder nicht, der Schmuck schien aus zwanzig- bis zweiundzwanzigkarätigem Gold zu bestehen.
Erst ganz hinten fand sie, was sie suchte – in einer dunklen Ecke des Marktes, wo die Stände besonders dicht standen und es keine Beleuchtung gab. Sie bahnte sich einen Weg um einen Pulk aus Einheimischen und spürte deren Blicke im Rücken. Die Rezeptionsangestellte hatte recht gehabt.
Sie schaute sich an einem der Stände um und wurde von einer indischen Frau im Sari begrüßt, deren Fettpolster über ihren Taillenbund quollen. Von Avas Anblick überrascht, drehte sie ihr den Rücken zu, als erwartete sie, dass sie wieder gehen würde. Schließlich nahm die Frau ihre Anwesenheit mit hochgezogener Augenbraue zur Kenntnis.
»Ich hätte gerne eines von diesen«, sagte Ava und deutete auf eine Reihe von Messern in einer geschlossenen Glasvitrine.
»Welches?«
»Weiß ich noch nicht. Könnten Sie die Vitrine öffnen?«
Die Frau erhob sich schwerfällig und nahm einen Schlüssel aus einer Schublade. Beim Aufschließen schaute sie sich misstrauisch um, dann bedeutete sie Ava, näher zu treten.
Es war eine überraschend gute Auswahl von automatischen Springmessern. Sie erkannte Heckler & Koch, Blackwater, Schrade, Buck und Smith & Wesson. Ava begutachtete sie ausgiebig und bat die Frau, ihr ein Schrade-Messer zu reichen. Die Klinge war zu kurz. »Eigentlich bevorzuge ich italienische Springmesser«, sagte sie.
Die Frau hob die filzüberzogene Ablage, darunter befand sich eine Reihe italienischer Springmesser. »Alles von fünfzehn bis vierzig Zentimetern«, sagte sie.
»28 Zentimeter dürften genügen.«
Die Frau gab ihr das entsprechende Messer. Es war leicht und lag gut in der Hand. Als sie auf den Knopf drückte, sprang im Bruchteil einer Sekunde eine schön gearbeitete Klinge heraus. »Wie viel?«
»Hundertfünfzig amerikanische Dollar.«
»Hundert.«
»Hundertfünfundzwanzig.«
»Hundert.«
»Hundertzwanzig, letztes Angebot.«
»Einverstanden«, sagte Ava.
Als sie Stabroek Market verließ, war es draußen noch heißer. Ein Taxi mit offenen Fenstern parkte am Straßenrand. Sie stieg ein und bat den Fahrer, die Klimaanlage einzuschalten und sie zum Phoenix zu bringen.
»Ich habe keine Klimaanlage.«
»Fahren Sie trotzdem los.«
»Das ist doch ganz in der Nähe. Sie sollten zu Fuß gehen.«
Sie reichte ihm zehn Dollar. »Fahren Sie.«
Der Portier des Hotels hatte seine Pause beendet, lehnte an der Mauer und betrachtete die leere Lobby. Sie hatte noch keine anderen Leute kommen oder gehen sehen und fragte sich, ob sie der einzige Gast war. Der Mann nickte ihr zu, sie erwiderte den Gruß und ging zu ihm.
»Ist Jeff schon vom Flughafen zurück?«
»Nein, aber er müsste bald da sein.«
»Könnten Sie ihm ausrichten, er soll mich auf dem Zimmer anrufen, sobald er kommt? Sagen Sie ihm, ich brauche den Jeep heute Nachmittag.«
Im Zimmer zog sie sich aus und warf im mannshohen Spiegel an der Innenseite der Schranktür einen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie war stolz auf ihren Körper und arbeitete hart, wenn auch nicht verbissen daran, ihn in Form zu halten. Gewichte zu stemmen war nicht ihr Ding, sie mochte ihre schlanke Figur. Doch am besten gefielen ihr ihre fast vollkommenen Proportionen. Sie mochte keine Frauen mit plumpen Fesseln oder zu langen Torsos – darauf stand sie überhaupt nicht.
Avas Wohlgefühl verpuffte beim Duschen, denn das Wasser, das aus dem Duschkopf sprudelte, war braun. Sie wartete vergebens darauf, dass es sich klärte. Es roch leicht chemisch. Als sich die Farbe des Wassers nach einer Weile immer noch nicht änderte, verließ sie das Bad und rief die Rezeption an. »Das Wasser in meiner Dusche ist braun«, sagte sie.
»Und?«
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
»Das Wasser ist immer braun. Es kommt aus dem Demerara River. Wir haben unsere eigene Kläranlage – das Wasser ist unbedenklich,
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