Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
vorkam –, kritisierte er sie nie im Nachhinein.
»Ja, ich halte es für nötig.«
»Sonst noch was?«
»Erinnerst du dich, wie ich damals diese Buchhalterfirma, Fong Accounting, als Tarnung benutzt habe?«
»Ja.«
»Das muss ich wieder tun.«
»Hast du die Visitenkarte noch?«
»Ja.«
»Wie ist die Situation?«
»Auf den British Virgin Islands werde ich Setos Bank, Barrett’s, anrufen, und mich als Buchhalterin ausgeben. Die Bank kann Fong anrufen, um meine Geschichte zu überprüfen. Wahrscheinlich werden sie nichts dergleichen tun, aber besser, wir gehen auf Nummer sicher.«
»Welcher Name steht auf der Karte?«
»Ava Lee.«
»Okay, ich rede mit Mr. Fong, und wir arrangieren das. Soll das Büro möglichen Anrufern etwas Bestimmtes erzählen?«
»Dass ich in der Karibik bin – auf Geschäftsreise, versteht sich. Du kannst ihnen sagen, sie dürfen meine Mobilfunknummer weitergeben, falls der Anrufer mich erreichen will.«
»Ist das alles?«
»Nein. Wir müssen unseren guyanischen Freunden nochmals Geld schicken.«
Er reagierte nicht sofort. Sie konnte sich vorstellen, was ihm durch den Kopf ging. Sie hatten bereits über 100 000 Dollar vorgestreckt, und jetzt bat sie ihn erneut um eine Überweisung. Derek anzuheuern kostete mindestens 10 000 Dollar. Wenn sie nicht an Setos Konto herankam, wie viel Verlust würden sie machen?
Bevor er etwas erwidern konnte, fuhr sie schnell fort: »Onkel, ich habe nicht nur Tams Geld gefunden – es ist einiges mehr. Wir bekommen unsere Provision plus einen saftigen Bonus.«
»Wie viel müssen wir überweisen?«
»Keine Ahnung, ich stecke noch in den Verhandlungen«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass wir Tams Geld ohne diese Investition nicht in absehbarer Zeit wiederbeschaffen können.«
»Wann weißt du Bescheid?«
»Spätestens morgen.«
»Ich erwarte deinen Anruf«, sagt er.
»Onkel, all das tut mir leid. Mir ist bewusst, dass du unbedingt mit dem Ordonez-Fall anfangen willst.«
»Der muss eben warten. Pass auf dich auf. Sei vorsichtig.«
Als Nächstes rief Ava Derek Liang an. Sie erreichte ihn erst beim dritten Versuch und konnte ihn kaum verstehen, weil im Hintergrund ohrenbetäubende Musik lief. Er war ein Karaoke-Junkie und hielt sich für Jackie Cheung, Hongkongs berühmtesten kantonesischen Popstar. Mit erhobener Stimme bat sie ihn, nach draußen zu gehen. Sie kannte Derek jetzt seit sechs Jahren. Ihr Bak-Mei-Lehrer hatte sie einander vorgestellt, denn er war der Auffassung, seine einzigen Schüler müssten sich unbedingt kennenlernen. Derek scherzte, der Meister hoffe wohl heimlich, dass sie zusammen die ultimative Kampfmaschine zeugten. Doch selbst wenn Avas sexuelle Orientierung nicht im Weg gestanden hätte, wäre Derek der letzte Mann, mit dem sie sich einlassen würde. Er war der einzige Sohn eines vermögenden Händlers aus Shanghai und hatte in Toronto die Universität besucht. Im zweiten Jahr brach er das Studium ab, um sein Leben ganz dem Kampfsport, maßgefertigten Luxuskarossen, Karaoke und den Frauen zu widmen. Ava konnte sich nicht erinnern, ihn zweimal mit derselben Frau oder demselben Wagen gesehen zu haben. Aber Derek war smart und taff – sehr taff. Er war über 1,80 groß, schlank und durchtrainiert, redegewandt auf Englisch und in drei chinesischen Dialekten, kleidete sich geschmackvoll und, wenn er wollte, konservativ und erregte überall, wo er war, eine Menge Aufmerksamkeit. Er und Ava hatten sich mehrmals als Paar ausgegeben. Hand in Hand zogen sie viele Blicke auf sich. Jetzt war es wieder einmal so weit.
»Du musst für mich auf die British Virgin Islands fliegen«, sagte sie.
»Wann?«
»Morgen, wenn möglich.«
»Treffen wir uns dort?«
»Ja, aber ich weiß noch nicht, wann ich ankomme. Könnte ein, zwei Tage später sein.«
»Ich finde schon was, womit ich mir die Zeit vertreiben kann.«
»Wir brauchen eine Suite – je größer, desto besser. Ich bringe noch jemanden mit. Kümmerst du dich darum?«
»Natürlich.«
»Schick mir eine E-Mail, wenn du alle Vorkehrungen getroffen hast.«
Ava bezahlte Derek zweitausend Dollar pro Tag plus Spesen. Beim ersten Mal, als sie zusammengearbeitet hatten, wollte er kein Geld annehmen. Er sagte, er sei nicht darauf angewiesen, was natürlich stimmte, doch sie hatte ihm auf Kantonesisch – einer Sprache, die sich dank der harten Konsonanten und des schrillen Tonfalls perfekt fürs Beschimpfen eignete – gründlich den Kopf gewaschen. Derek nahm das Geld
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