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Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Titel: Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Hamilton
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Varianten zu verdrängen.
    »Hallo«, hörte sie eine Stimme mit deutlich barbadischem Akzent.
    »Wir brauchen Hilfe bei einem der Passagiere«, rief der Pilot. »Er muss nach draußen getragen werden.«
    »Kein Problem«, antwortete die dröhnende Stimme.
    Der Pilot trat beiseite und gab den Blick auf ein breites Gesicht frei, das ihr bekannt vorkam. Der Mann hatte dieselben hellblauen Augen und breiten, fleischigen Lippen wie Captain Robbins, einzig der fast durchscheinende Teint fehlte, doch seine sonnenverbrannte Kopfhaut war mit tiefen weißen Furchen überzogen. Er ließ den Blick einmal durch die Kabine schweifen, ehe er ihn auf sie richtete. »Sie müssen Ava Lee sein. Ich bin Jack Robbins.«
    »Freut mich.«
    »Sie sind sehr pünktlich«, sagte Robbins und zog sich die Stufen hinauf. Sein Kopf streifte beinahe die Decke, er schien den vorderen Teil des Flugzeugs komplett auszufüllen. Möglicherweise lag es an seiner körperlichen Nähe im engen Raum, doch er kam ihr noch imposanter vor als sein Bruder. Vielleicht nicht ganz so fit und agil, aber ebenso beeindruckend. Sein schlichtes, weißes, kurzärmeliges Baumwollhemd spannte sich zeltartig über dem gewaltigen Bauch und der ausgebeulten Jeans, und die Füße quollen fast aus den offenen Ledersandalen. Er deutete auf Seto. »Ist er die Fracht?«
    »Ja«, sagte sie, als ihr Blick auf seine Hände fiel: Sie steckten in durchsichtigen Latexhandschuhen, die an den Handgelenken sehr stramm saßen. Robbins kam nur seitlich durch den Gang. Sie trat einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen. Er packte Seto unter den Achseln und hob ihn hoch wie ein kleines Kind. Sie erwartete halb, dass Robbins ihn sich auf die Hüfte setzen oder über die Schulter werfen würde. Stattdessen hielt er Seto auf Armeslänge von sich, sodass dessen Füße knapp über dem Boden baumelten. »Bringen wir ihn nach draußen«, sagte Robbins und ging zum Ausgang.
    Ava nahm ihr Gepäck und das von Seto. Sie wusste nicht, was sie sonst tun oder von allem halten sollte. Ihre Verwirrung war ihr so deutlich anzusehen, dass der Pilot fragte: »Ist alles in Ordnung, Ms. Lee? Wenn nicht …«
    Was dann? Fliegen Sie mich zurück nach Guyana? »Alles bestens«, antwortete sie.
    Als sie die Treppe hinunterstieg, lud Robbins Seto gerade unsanft im Rollstuhl ab. Die beiden anderen Männer mit Abzeichen der Zoll- und Einwanderungsbehörde auf den Uniformen sahen ohne großes Interesse zu ihr auf. »Ich bin Ava Lee«, stellte sie sich vor. »Ist einer von Ihnen Morris Thomas?«
    »Thomas hat die beiden hergeschickt, um zu helfen. Er ist in seinem Büro, und da gehen wir jetzt als Erstes hin«, erklärte Robbins.
    Sie schritten über den Asphalt. Einer der Männer schob den Rollstuhl, der andere unterhielt sich leise mit ihm. Ava ging neben dem schweigenden Robbins her, dessen Gesicht völlig ausdruckslos war. Als sie sich dem Terminal näherten, wurde der Rollstuhl plötzlich kurz vor dem Haupteingang nach links geschwenkt. Zwanzig Meter weiter kamen sie an eine Doppeltür aus Glas, auf der ZOLL UND EINWANDERUNG  – UNBEFUGTER ZUTRITT VERBOTEN stand. Ava verspürte eine gewisse Erleichterung. Sie betraten ein weitläufiges Großraumbüro, das verlassen wirkte, und kamen an einer Reihe von Schreibtischen vorbei, bis sie im hinteren Teil eine graue Stahltür mit der Aufschrift MORRIS THOMAS erreichten. »Der Rollstuhl bleibt draußen. Einer muss auf ihn aufpassen«, wies Robbins seine Männer an. Er dreht am Griff und die Tür öffnete sich. »Nach Ihnen«, sagte er zu Ava.
    Ein dünner, schwarzer Mann im blauen Hemd saß hinter einem Schreibtisch, der ihn noch schmächtiger erscheinen ließ. Er muss um die sechzig sein , dachte sie mit Blick auf die drahtigen, grauen Haare, das von Sorgenfalten überzogene Gesicht und die geröteten Augen mit Tränensäcken, die fast die Größe von Teebeuteln hatten. »Das ist Ava Lee«, erklärte Robbins. Als Thomas zu ihr aufsah, war sein Blick von Mitleid erfüllt, oder zumindest von einer Art müder Resignation. In dem Moment wurde ihr klar, dass alles anders laufen würde als geplant. »Freut mich«, sagte sie.
    »Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, bat Thomas.
    Zwei Stühle standen vor dem Schreibtisch. Robbins ließ sich auf einem nieder, während sie in ihrer Tasche wühlte. »Bitte sehr.«
    Sie stellte das Gepäck auf den Boden, setzte sich neben Robbins und beobachtete, wie Thomas betont langsam ihren Reisepass durchblätterte. Es war mit vierzig

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