Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Vermutlich war er für wenigstens fünf, sechs Stunden außer Gefecht gesetzt.
So weit, so gut , dachte sie und betrachtete den bewusstlosen Seto. In anderthalb Stunden hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen, und Derek wäre da, um ihr zu helfen. Nun, da die Sorge, Seto nicht ruhig stellen und durch den Zoll schleusen zu können, aus der Welt geschafft war, kreisten ihre Gedanken um den nächsten Tag und die Bank. Egal, wie fügsam Seto war, sie wusste, jetzt hing alles davon ab, wie sie mit Barrett’s Bank beziehungsweise Jeremy Bates fertigwurde. Sie schlug ihr Notizbuch auf und nahm den Bankordner aus ihrer Tasche. Die E-Mail, die sie in Setos Namen geschickt hatte, bildete den Rahmen für das Treffen; jetzt kam es ganz darauf an, ruhig, kontrolliert und glaubwürdig zu wirken. Das Problem war, dass das allein nicht reichen würde. Irgendwie musste sie Bates dazu bringen, ihr zu vertrauen, nicht unbedingt blind, aber für einen seriösen Banker bliebe das Ganze mit einem Restrisiko verbunden.
Ava ging die Geschichte noch einmal durch, die sie ihm erzählen wollte, und machte sich dabei Notizen. Wo waren die Schwachstellen? Welche Fragen würde Bates stellen? Die Grundprämisse ist plausibel , entschied sie. Problemlos fand sie Antworten auf die Fragen, die Bates ihrer Meinung nach stellen würde. Plötzlich gab Seto ein langgezogenes Schnarchen von sich. Ava befürchtete kurz, er würde keine Luft mehr bekommen, und behielt ihn im Auge, bis sein Körper sich entspannte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Notizbuch zu, aber ihre Konzentration war dahin. Sie war erschöpft und wollte ihrem Verstand in der nächsten Stunde etwas Ruhe gönnen, anstatt sich endlose Szenarien mit Jeremy Bates auszumalen.
Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück. Einen Tag muss ich noch durchhalten.
32
D er Landeanflug auf den Beef Island Airport war holperig, und Ava erwachte abrupt, ohne sich zu erinnern, wann sie eingenickt war. Hastig sah sie zu Seto hinüber. Der schlief tief und fest. Die Landung war sanfter und die Ausrollphase länger, als sie bei einem Flugzeug dieser Größe gedacht hätte. Nachdem die Motoren verstummt waren, schaute sie aus dem Fenster und sah, dass der Terminal etwa hundert Meter entfernt lag. Sie schloss Setos Handschellen auf.
Der Pilot öffnete die Cockpit-Tür und kam in die Kabine. »Ich habe angerufen, man erwartet uns. Aber Sie dürfen das Flugzeug nicht verlassen, bevor Sie abgeholt werden und wir grünes Licht bekommen.« Sein Blick fiel auf Seto. »Gehts ihm gut?«
»Er hat die meiste Zeit geschlafen. Anscheinend war er ziemlich erschöpft.«
Der Pilot ging zum Ausgang, entriegelte die Tür und fuhr die Treppe aus. Ein warmer Luftschwall drang ins Innere, der nach einer seltsamen Mischung aus den Ölen und Gasen roch, die von der Landebahn aufstiegen. Sie verstaute das Notizbuch in ihre Tasche, brachte ihre Kleider in Ordnung und steckte sich das Haar neu hoch.
Der Pilot spähte in die Dunkelheit hinaus. Ava wusste nicht, was sie beim Zoll zu erwarten hatte; blieb nur zu hoffen, dass Derek irgendwo einen Rollstuhl aufgetrieben hatte und ihn auf die Landebahn mitbringen durfte, sonst müsste sie Seto zum Terminal schleppen. Sie schaute auf die Uhr. Die Landung war jetzt schon fünf Minuten her. Weshalb die Verzögerung? Dem Pilot ging anscheinend dieselbe Frage durch den Kopf, denn er drehte sich um und zuckte die Achseln. Es vergingen noch mehrere Minuten, bis er plötzlich sagte: »Ich sehe sie. Sie kommen.«
Ava stand auf und streckte sich. »Haben Sie einen Rollstuhl dabei?«, fragte sie.
»Ja.«
Trotzdem musste Seto die Treppe hinuntergetragen werden. »Mein Freund braucht vielleicht Hilfe beim Hineinsetzen.« Sie durchsuchte ihre Tasche nach ihrer Bargeldrolle und zählte vier Hundert-Dollar-Scheine ab. »Hier, das ist für Sie und ihren Kopiloten. Teilen Sie es auf, wie Sie es für richtig halten«, sagte sie und drückte sie ihm in die Hand. Der Pilot trat von der Tür zurück. Ava, die hinter ihm stand, spähte an ihm vorbei in die Dunkelheit.
Drei Männer kamen auf sie zu. Keiner davon war Derek. Zwei trugen Uniform, einer schob den Rollstuhl. Dieser war etwas zurückgefallen, sein Gang wirkte schwerfällig und mühsam. Er war massig gebaut, einen Kopf größer als die beiden anderen und doppelt so breit. Ava zog sich zurück und lehnte sich an die Wand. Wo zur Hölle war Derek? Wahrscheinlich im Terminal , dachte sie in dem Versuch, Gedanken an unangenehmere
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