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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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»Wird man sich nicht fragen, wer du bist und woher du kommst?«
    Alys musterte ihn abschätzig von der Seite. »Du würdest doch sicher für mich bürgen, Tom. Du könntest ihnen erzählen, ich bin deine Schwester, oder etwa nicht?«
    Tom schüttelte wieder den Kopf. »Nein! Ich weiß es nicht! Ich denke schon, Alys, aber ich weiß nicht, was ich tun kann und was nicht! Mir dreht sich alles!«
    Alys streckte ihre weiche, weiße Hand nach ihm aus und berührte sanft seine Stirn zwischen den Augen, mit all ihrer Kraft in den Fingerspitzen. Sie spürte, wie ihre Finger sich von der Macht, die sie durchströmte, erwärmten. Einen schwindelnden Augenblick lang dachte sie, Tom zu allem bewegen zu können, ihn alles glauben machen, ihn alles tun lassen zu können. Er schloß die Augen bei ihrer Berührung, und sein Körper schwankte auf sie zu wie eine Eberesche im Wind.
    »Alys«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor Verlangen.
    Sie zog ihre Hand zurück, und er öffnete langsam die Augen.
    »Ich muß gehen«, sagte sie. »Versprichst du, einen Platz für mich zu finden?«
    Er nickte. »Aye«, sagte er und zog das Plaid über seine Schulter.
    »Und mich dorthinzubringen?«
    »Ich werde tun, was ich kann«, sagte er. »Ich werde herumfragen, welche Abteien sicher sind. Ich werde dich hinbringen, koste es, was es wolle.«
    Alys hob die Hand zum Abschied und sah ihm nach. Als er außer Hörweite war, hauchte sie ihm ihren Willen nach. »Mach es, Tom«, sagte sie. »Mach es sofort. Finde einen Ort für mich. Bring mich zurück in ein Kloster. Hier kann ich nicht bleiben.«
    Es wurde kälter. Im September wuchs sich der Wind für eine Woche zu einem unerbittlichen Sturm aus, und als er wieder einschlief, waren die Moore, die Hügel und sogar die Täler in dicke Dunstschleier gehüllt, die sich tagelang nicht hoben. Morach blieb jeden Morgen länger im Bett.
    »Ich stehe auf, wenn das Feuer brennt und der Haferbrei heiß ist«, meinte sie zu Alys von ihrer Schlafplattform aus. »Es hat wenig Sinn, wenn wir uns beide tödlich erkälten.«
    Alys hielt den Kopf gebeugt und sagte wenig. Jeden Abend drehte sie die Hände zum Licht des Feuers und untersuchte ihre Handflächen nach rauhen Stellen. Die Haut war wund und rot geworden, dann hatte sie Blasen bekommen, die aufgegangen und wieder verheilt waren. Der feiste Ansatz ihres Daumens war schon hart geworden, und die Haut an ihren Fingerspitzen wurde trocken und hart. Sie rieb sich das Fett von Schafvliesen in die Schwielen, mit angewidertem Gesicht wegen des ranzigen Geruchs, aber nichts konnte verhindern, daß ihre Hände härter und rot und rauh wurden.
    »Ich bin immer noch gut als Nonne«, flüsterte sie vor sich hin. Sie betete ihren Rosenkranz, bevor sie zu Bett ging, und sprach ihre Abendgebete, ohne die Zeit zu wissen, so fern vom disziplinierenden Rhythmus der Kapellenglocke. Eines Abends verhaspelte sie sich und merkte, daß sie allmählich die Worte vergaß. Sie vergaß ihre Gebete. »Ich bin immer noch gut als Nonne«, sagte sie grimmig, bevor sie einschlief. »Gut genug als Nonne, wenn ich nur bald in ein Kloster komme.«
    Sie wartete auf Nachricht von Tom, aber es kam keine. In Bowes hörte sie nur verworrene Geschichten von Inspektionen und Veränderungen. Die Schergen des Königs waren überall. Verlangten Rede und Antwort in stillen Kreuzgängen, inspizierten die Reichtümer der Orden, die Armut gelobt hatten. Keiner wußte, wie weit der König gehen würde. Er hatte seinen Bischof Thomas More hingerichtet, den meistgeachteten Mann Englands, er hatte Mönche auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er hatte das ganze Klerikum für sich beansprucht, Pfarrer, Vikare, Bischöfe. Und jetzt hatte er ein Auge auf die Abteien und Klöster geworfen. Er wollte ihre Macht, er wollte ihr Land, er konnte ohne ihren Reichtum nicht überleben. Es war nicht der richtige Moment, um unter falschem Namen und mit verbranntem Gewand in einen Orden einzutreten.
    »Ich bin verflucht«, sagte Alys mißmutig, als sie Wasser für Morach holte und Rüben aus dem kalten feuchten Boden zog.
    Alys setzte die Kälte sehr zu. Vier Jahre lang hatte sie in einem befestigten Gebäude geschlafen, in dem nachts ganze Baumstämme im Kamin brannten. So war der Lehmboden von Morachs Hütte für sie unerträglich. Sie begann nachts zu husten, und ihr Husten wurde zu herzzerreißendem Schluchzen vor Heimweh. Das Schlimmste aber waren die Träume: wenn sie träumte, daß sie in der Abtei wäre, an Mutter

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