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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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Hildebrandes Knie lehnte und im hellen Kerzenlicht laut vorläse. Eines Nachts träumte sie, Mutter Hildebrande wäre in die Hütte gekommen und hätte Alys gerufen, die auf Knien durch den Schlamm des Gemüsebeetes rutschte. »Natürlich bin ich nicht tot!« hatte Mutter Hildebrande strahlend gesagt. Alys spürte, wie ihre Mutter sie in die Arme nahm und sie an sich drückte, roch den sauberen, süßen Duft ihrer gestärkten Wäsche. »Natürlich bin ich nicht tot!« sagte sie. »Komm nach Haus mit mir!«
    Alys klammerte sich an die Lumpen ihres Kissens, schloß die Augen fester und versuchte weiterzuschlafen, in diesem Traum zu bleiben. Aber jedesmal weckte sie die Kälte des Bodens oder Morachs zänkisches Geschrei, und dann schlug sie wieder die Augen auf, spürte wieder den Schmerz des Verlustes und mußte sich wieder damit abfinden, daß sie weit weg von zu Hause war, weit weg von der Frau, die sie liebte, ohne Hoffnung, die Mutter oder irgendeine Schwester je wiederzusehen.
    Es regnete wochenlang in dichten, sturzbachartigen Güssen. Der Himmel weinte. Jeden Morgen, wenn Alys erwachte, war ihr Strohsack naß vom Boden der Hütte und ihr Gewand und ihr Umhang feucht vom Morgendunst. Morach machte ihr nörgelnd Platz auf ihrer Schlafplattform und weckte sie ein-, zweimal die Nacht, damit sie die wackelige Leiter hinunterkletterte und das Feuer in Gang hielt. Jeden Tag ging Alys flußabwärts in Richtung Bowes, wo die Eichen, Ulmen und Buchen wuchsen, und suchte nach Feuerholz. Jeden Tag zog sie schwere, tote Äste nach Hause und hackte sie mit Morachs alter Axt in Scheite. Die Holzsuche nahm oft einen Großteil der Stunden mit Tageslicht in Anspruch, doch zusätzlich mußte sie noch den Nachttopf auf den stinkenden Misthaufen ausleeren, Wasser aus dem Fluß hochschleppen und Rüben und Karotten aus dem Gemüsebeet ziehen. Einmal wöchentlich ging sie zum Markt nach Bowes — ein erschöpfender Fünfmeilenmarsch hin und zurück, über den glitschigen Pfad am Flußufer oder die windgepeitschte Straße. Alys fehlte das gute Essen des Nonnenklosters, und sie wurde blasser und dünner. Ihr Gesicht wurde hager und verhärmt. Eines Tages, als sie nach Bowes ging, warf ein Kind ihr einen Stein nach, und als sie sich umdrehte und es verfluchte, jaulte das Kind aus Angst vor der kalten, nackten Wut in Alys' Augen.
    Mit dem kalten Wetter hielten auch die Krankheiten Einzug. Jeden Tag klopfte ein anderer an Morachs Tür und bat sie oder Alys um einen Zauberspruch, ein Tränklein oder einen Talisman gegen Durchfall, Erkältung oder Fieber. In Bowes gab es in der Zeit drei oder vier Geburten, und Alys begleitete Morach und holte blutige, unterentwickelte Kinder in die Welt.
    »Du hast die Hände dafür«, sagte Morach mit einem Blick auf Alys' lange, schlanke Finger. »Und du hast mit einem halben Dutzend Armenhäuslerbabys in deinem Nonnenkloster geübt. Du kannst alle Geburten machen. Du hast das Geschick, und ich bin zu alt, um noch um Mitternacht aus dem Haus zu gehen.«
    Alys starrte sie in stummem Haß an. Geburten waren die gefährlichste Aufgabe für eine weise Frau. Es konnte viel schiefgehen, zwei Leben standen auf dem Spiel, die Leute hofften, daß Mutter und Kind überlebten, und gaben der Hebamme Schuld an Krankheit und Tod. Es war sicherer für Morach, wenn sie Alys allein schickte.
    Das Dorf war beunruhigt, mißtrauisch. In Boldron, kaum vier Meilen entfernt, hatte man eine weise Frau gefangengenommen und sie bezichtigt, das Vieh ihres Nachbarn verhext zu haben. Die Beweise waren erdrückend. Nachbarn schworen, sie hätten sie trockenen Fußes auf dem Fluß laufen sehen. Jemand hatte sie beobachtet, wie sie einem Pferd ins Ohr flüsterte und das Pferd anschließend gelahmt hatte. Eine Frau sagte, es hätte wegen einer Speckseite am Markt von Castleton ein Gerangel gegeben, und ihr Arm würde seither weh tun; sie hätte Angst, er würde verfaulen und abfallen. Ein Mann schwor, er hätte die weise Frau im Nebel auf der Straße nach Boldron niedergeritten, und sie hätte ihn verflucht; darauf hätte sein Pferd sofort gescheut, und er wäre gestürzt. Ein kleiner Junge aus dem Dorf bezeugte, er hätte sie fliegen und mit den Tauben im Taubenschlag des Herrenhauses reden sehen. Das ganze Land hatte Beweise gegen sie, so daß der Prozeß Tage dauerte.
    »Das ist doch alles Unsinn«, sagte Alys, als sie mit der Nachricht aus Bowes zurückkam. »Zufälle sind das, die jedem passieren können, Albträume kleiner Kinder.

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