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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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Es ist, als ob sie alle verrückt geworden sind. Jeder kann alles behaupten.«
    Morach schaute grimmig drein. »Eine böse Mode ist das«, sagte sie barsch. Alys hatte einen Sack Lebensmittel auf den Boden neben das Feuer gestellt und warf drei Speckscheiben in die Brühe, die in dem Dreifuß brodelte. »Ich habe das schon erlebt. Wie die Pest zieht es übers Land. Manchmal um diese Jahreszeit, manchmal im Mittsommer. Immer wenn die Leute unzufrieden und arbeitslos sind, werden sie gehässig.«
    Alys warf ihr einen ängstlichen Blick zu. »Warum machen sie das?« fragte sie.
    »Zum Zeitvertreib«, sagte Morach. »Der Herbst ist eine langweilige Zeit. Die Leute sitzen am Feuer und erzählen sich Geschichten, mit denen sie sich gegenseitig Angst einjagen. Es gibt Erkältungen und Zipperlein, die keiner kurieren kann. Winter und Hunger lauern vor der Tür. Sie brauchen jemanden, dem sie die Schuld geben können. Und sie rotten sich gerne lärmend zusammen. Dann sind sie ein Tier, ein Tier mit hundert Mäulern und hundert klopfenden Herzen und keinem einzigen Gedanken. Nur Appetit haben sie.«
    »Was werden sie mit ihr machen?« fragte Alys.
    Morach spuckte genau ins Feuer. »Sie haben schon angefangen«, sagte sie. »Sie haben sie schon untersucht, ob sie Male hat, weil sie den Teufel gesäugt hat, und sie haben die Male mit einem Feuereisen ausgebrannt. Wenn die Wunden eitern, beweist das die Hexerei. Sie werden sie an Händen und Füßen fesseln und sie in den Fluß Greta werfen. Wenn sie lebend hochkommt — ist das Zauberei. Vielleicht muß sie die Hand in das Feuer des Schmiedes stecken und schwören, daß sie unschuldig ist. Vielleicht binden sie sie die ganze Nacht draußen im Moor fest, um zu sehen, ob der Teufel sie rettet. Sie werden mit ihr spielen, bis ihre Wollust gestillt ist.«
    Alys reichte Morach die Schüssel mit Brühe und einen Kanten Brot. »Und dann?«
    »Dann bauen sie einen Scheiterhaufen auf dem Dorfanger, der Priester wird Gebete für sie sprechen, und dann wird jemand -wahrscheinlich der Schmied — sie erwürgen. Sie werden sie an einer Wegkreuzung begraben«, sagte Morach. »Und dann suchen sie sich die nächste und danach wieder eine andere. Bis etwas anderes passiert, ein Fest oder ein Feiertag, und sie neue Ablenkung haben. Es ist wie ein Wahn, der vom ganzen Dorf Besitz ergreift. Eine schlechte Zeit für uns. Ich werde nicht nach Bowes gehen, bis die weise Frau aus Boldron tot und vergessen ist.«
    »Wie kriegen wir dann Mehl?« fragte Alys. »Und Käse?«
    »Du kannst ja gehen«, sagte Morach eiskalt. »Oder wir kommen ein oder zwei Wochen ohne aus.«
    Alys warf Morach einen frostigen Blick zu. »Wir kommen ohne aus«, sagte sie, obwohl ihr der Magen knurrte.
    Ende Oktober wurde es plötzlich bitterkalt, und jeden Morgen war alles mit Rauhreif überzogen. Alys gab für den Winter das Waschen auf. Das Flußwasser war reißend und braun. Jeden Tag schleppte sie einen vollen Wassereimer fürs Kochen hinauf zur Hütte; sie hatte weder die Zeit noch die Energie, Wasser zum Waschen zu holen. Ihre nachwachsenden Haare waren verlaust, ihr schwarzes Nonnenkleid klebte vor Dreck. Sie fing Flöhe und knackte ihre kleinen Körper schamlos zwischen Zeigefinger und zerfetztem Daumennagel. Sie war gegen den Gestank und den Dreck immun geworden. Wenn sie den Nachttopf auf den Misthaufen leerte, mußte sie sich nicht mehr abwenden und gegen den Brechreiz ankämpfen. Morachs Kot und ihr eigener, der Mist der Hennen und der Abfall türmten sich auf dem Misthaufen, und Alys breitete ihn aus und hub ihn unter die Erde des Gemüsebeetes, ohne den Gestank wahrzunehmen.
    Die saubere weiße Wäsche, der süße Geruch der Kräuter im Destillationsraum und der Duft der Blumen auf dem Altar der Abtei waren wie ein Traum. Manchmal dachte Alys, Morachs Lüge sei Wahrheit, und sie sei tatsächlich nie in der Abtei gewesen, hätte die Nonnen nie gekannt. Aber dann wachte sie nachts wieder auf, und ihr Gesicht war angespannt und salzig vor Tränen. Da wußte sie, daß sie wieder von ihrer Mutter geträumt hatte und von dem Leben, das für immer verloren war.
    Den Genuß, sauber zu sein, konnte sie vergessen, aber ihr hungriger, heranwachsender Körper rief ihr täglich das Essen in der Abtei in Erinnerung. Den ganzen Herbst aßen Alys und Morach wäßrige Gemüsebrühe, manchmal mit einer Speckscheibe, deren Fett in goldenen Augen auf der Oberfläche schwamm. Manchmal hatten sie ein Stück Käse. Nur Brot gab es immer,

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