Die weise Frau
der Brechreiz sie überkommt. Dann vergeht der Anfall.«
»Wie soll das funktionieren?« fragte Alys ungeduldig. »Warum sollte ein zerrissenes Stück Papier sie kurieren?«
Morach lachte. »Da hör sich doch einer die weggelaufene Nonne an!« rief sie dem Feuer zu. »Hör dir das Mädchen an, das im Kräutergarten, im Destillationsraum und im Hospital der Nonnen gearbeitet hat und die Kraft der Pflanzen leugnet! Die Macht des Gebetes verleugnet! Es kuriert sie, mein Mädchen, weil es Kraft hat. Und um das Gebet zu sprechen, müssen sie Luft holen. Es beruhigt sie. Ich habe angeordnet, daß das Gebet gen Himmel gesprochen werden muß, also müssen sie ein Fenster öffnen und atmen frische Luft. All diejenigen, die gestorben sind, waren schwach und kränklich und waren angsterfüllt in dreckigen Zimmern gesessen. Der Zauberspruch wirkt, weil er mächtig ist. Und es hilft, wenn sie daran glauben.«
Alys bekreuzigte sich mit einer flüchtigen Geste. Morach hätte sie verspottet, wenn sie es gesehen hätte.
»Und wenn sie für einen Zauberspruch zahlen können, können sie auch für gutes Essen und sauberes Wasser bezahlen«, sagte Morach ergänzend. »So besteht die Chance, daß sie kräftiger sind, wenn die Krankheit sie packt. Die Reichen sind immer gesegnet.«
»Was, wenn es nicht funktioniert?« fragte Alys.
Morachs Gesicht verhärtete sich. »Du solltest besser zu unserer Lieben Frau beten, damit es nie versagt«, sagte sie. »Wenn es versagt, werde ich sagen, daß sie von einer anderen Macht verhext worden sind oder daß der Zauberspruch nicht gewirkt hat, weil sie etwas falsch gemacht haben. Wenn es versagt, gehe ich sofort zu den Erben und versuche, mir ihre Freundschaft zu erkaufen. Aber wenn sie auf Rache aus sind und ihr Vieh auch stirbt, dann halten wir beide uns von Bowes fern, halten die Köpfe gebeugt und bleiben außer Sicht, bis die Leiche begraben ist und die Leute vergessen haben.«
»Es ist unrecht«, sagte Alys im Brustton der Überzeugung. »In der Abtei haben wir uns an die alten Bücher gehalten, wir kannten die Kräuter, die wir gezogen haben, wir haben daraus Tinkturen gemacht und sie aus Meßgläsern getrunken. Das hier ist keine Kunst, das ist Unsinn. Das sind Lügen in Küchenlatein verkleidet, um Kinder zu schrecken!«
»So, Unsinn ist das also?« fragte Morach gereizt. »Es gibt Leute in diesem Dorf, die beschwören, daß ich Fehlgeburten auslösen kann, wenn ich eine Frau nur anblinzle! Es gibt Leute in diesem Dorf, die glauben, ich könnte ein gesundes Tier töten, indem ich über seinem Wassereimer die Finger schnippe. Es gibt Leute in diesem Dorf, die glauben, der Teufel spräche in meinen Träumen zu mir und all seine Kräfte wären mir Untertan!«
»Hast du denn keine Angst?« fragte Alys.
Morach lachte, ein wildes, barsches Lachen. »Angst?« sagte sie. »Wer hat denn keine Angst? Aber ich habe mehr Angst davor, diesen Winter zu verhungern oder vor Kälte zu sterben, weil wir kein Feuerholz haben. Seit man mir mein Land gestohlen hat, habe ich keine andere Wahl. Seit man mir mein Land gestohlen hat, habe ich Angst. Ich bin eine weise Frau — natürlich habe ich Angst!«
Sie stellte den Mörser und den Stößel beiseite und verteilte dann mit ruhiger Hand das Pulver auf die Papierfetzen.
»Außerdem«, sagte sie mit einem boshaften Seitenblick, »habe ich jetzt weniger Angst als vorher. Viel weniger Angst.«
»Wirklich?« fragte Alys. Sie kannte diesen Ton, er bedeutete immer Qualen für sie.
»O ja«, sagte Morach schadenfroh. »Wenn sie jetzt in Bowes eine Hexe suchen, wen glaubst du, packen sie dann zuerst? Eine kleine alte Frau mit ein paar Kräutern im Beutel, die schon seit Jahren hier ist und nie großen Schaden angerichtet hat — oder ein Mädchen, schön wie die Sünde, das mit niemandem spricht und sich von keinem Mann den Hof machen läßt? Ein Mädchen, das weder Jungfrau noch Frau ist, weder Heilige noch Sünderin. Ein Mädchen, das sich nur selten in Bowes zeigt, immer mit einem Umhang und einem Schal über dem Kopf. Du solltest Angst haben. Dich sehen sie als seltsame Frau an, als jemanden, der fremdartig ist. Also halten sie dich für diejenige, die die Fähigkeit besitzt, den Brechreiz zu kurieren. Du wirst es sein, den sie preisen oder dem sie die Schuld geben. Du solltest Angst haben!«
»Sie können doch nicht glauben, daß das Zaubersprüche sind!« rief Alys. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, daß es Gebete sind! Sie können doch nicht
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