Die weise Frau
vielleicht eine Schlange. Dann sah sie es deutlich.
Eine kleine, weiße Hand.
Alys schrie laut auf, brachte aber nur ein Stöhnen heraus.
Sie mußte mitansehen, wie die kleine Hand den Blättervorhang teilte und die kleine Wachspuppe herausmarschierte. Es war die Puppe von Hugo — die schlimmste von den dreien. Augenlos, ohrenlos, fingerlos, mundlos. Sie watschelte auf ihren kleinen Beinen durch die Böschung hinunter auf die Straße. Dahinter kamen wie zwei winzige Spielzeugsoldaten die anderen beiden. Die Puppe von Lord Hugh, gebeugt und etwas müder, aber sie marschierte entschlossen hinter Hugo drein, und hinter ihm kam Catherine.
Fasziniert beugte sich Alys vom Pferd, um sie besser sehen zu können. Die Puppe von Catherine hatte sich verändert. Der riesige, fette Bauch war weg, abgerissen. Das große Loch an der Stelle, wo der Bauch gewesen war, hatte ausgefranste Ränder. Und mit jedem Schritt, den sie machte, hinterließ die Puppe eine kleine Spur, wie den Schleim einer Schnecke, wie geschmolzenes Wachs, das aus der Wunde tropfte.
»Wohin geht ihr denn?« stöhnte Alys leise.
Catherine und Lord Hugh stutzten beim Klang ihrer Stimme. Aber die kleine Puppe von Hugo konnte sie weder hören noch sehen, noch fühlen, noch mit ihr reden. Sie marschierte weiter wie ein kleines unaufhaltbares Spielzeug.
»Nach Castleton«, flöteten die beiden Püppchen mit ihren hohen, unschuldigen Stimmchen. »Um die Mutter zu suchen, die uns gemacht hat.«
»Ich hab euch begraben!« brüllte Alys sie an. »Ich hab euch in geweihter Erde gelassen. Ich hab euch dort zurückgelassen. Liegt still! Ich befehle es euch!«
»Wir wollen unsere Mutter!« sagten sie mit ihren hohen, hellen Stimmchen. »Wir wollen unsere Mutter, kleine Schwester Ann!«
»Nein!« Alys' Schrei zerstörte ihren Schlaf. Sie hörte, wie die Tür aufschlug, Mary ins Zimmer kam und sie fragte, ob sie krank wäre.
»Nein!« sagte Alys wieder, und der Traum verblaßte, als sie Marys Hand auf ihrem Arm spürte.
Aber sie hörte die Antwort, in drei Meilen Entfernung auf der Straße nach Castleton. »Wir wollen dich, Mutter!« riefen sie freudig. »WIR WOLLEN DICH!«
29
Der Morgen war klar und sonnig, genau wie der alte Lord es prophezeit hatte. Der Sturm hatte den Nebel ertränkt und die Wolken weggeblasen. Als Alys erwachte, trat sie an die Schießscharte und blickte hinaus aufs Moor, wo das weiße Band der Straße sich nach Westen schlängelte. Lange blieb sie so stehen und starrte auf das Moor, als erwarte sie, daß jemand die Straße entlangkäme. Dann drehte sie sich mit einem Achselzucken weg.
»Ich fürchte nichts«, murmelte sie vor sich hin. »Gar nichts. Ich hab es nicht bis hierher geschafft, um Angst vor Träumen zu haben. Ich bin keine Närrin wie Catherine. Ich werde mich vor nichts fürchten.«
Mary klopfte an der Tür und brachte auf einem Tablett ein üppiges Frühstück. Alys legte sich wieder ins Bett und aß mit großem Appetit, während sie Mary ein Kleid nach dem anderen zur Begutachtung aus der Truhe holen ließ.
»Das neue blaue Kleid«, sagte sie schließlich. »Und ich werde mein Haar offen tragen.«
Mary legte das Kleid bereit, goß heißes Wasser aus einem Krug in eine Schüssel und half Alys, das Kleid zu schnüren. Es war aus einem Stück blauer Seide, das sie in Megs Truhe gefunden hatte, und die Schloßnäherinnen hatten es nach der neuesten Mode gearbeitet. Alys lächelte. Das Mieder war kurz, es drückte die Brüste zusammen und wurde hinten geschnürt. Vorne war der Stoff großzügig über dem Bauch zusammengerafft. Selbst Jungfrauen würden in diesem Kleid schwanger aussehen. Alys, deren Bauch durch die Seidenfalten noch größer wirkte, sah darin aus wie eine Königin der Fruchtbarkeit. Sie öffnete die Tür, begrüßte die Damen und ging dann durch die Galerie, um Catherine zu besuchen.
Catherine war noch im Bett. Ihr Frühstückstablett war beiseite geschoben, und sie trank gerade aus einem Bierkrug. Sie setzte ihn ab als Alys zur Tür hereinkam, und streckte die Arme nach ihr aus. Alys beugte sich über das Bett und ließ Catherine sie umarmen und ihr feuchtes Gesicht an ihren Hals kuscheln.
»Alys«, jammerte Catherine. »Du mußt mir helfen.«
Alys zog ohne Aufforderung einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Und wie, Catherine?« fragte sie freundlich. »Ihr wißt, ich würde alles, was in meiner Macht steht, für Euch tun.«
Catherine schniefte erbärmlich und kramte unter ihrem Kissen nach einem
Weitere Kostenlose Bücher