Die weise Frau
einen langen, tiefen Seufzer der Verzweiflung aus. Das alte Leben war tatsächlich dahin, unwiederbringlich, und Alys würde es nie mehr zurückholen können. Sie saß da und trauerte über ihre eigene Situation, den Blick auf die Flammen und die weiße geweihte Hostie gerichtet, die blaß aus der roten Glut schimmerte. Alys beobachtete sie — unversehrt, nicht einmal angesengt — und wußte, daß sie fern von Christus war und von ihrer eigenen Mutter, der Äbtissin. Sie war so weit von ihnen entfernt, als wäre sie schon in der Hölle.
Bei diesem Gedanken stutzte sie und nickte. »Ich bin verdammt«, sagte sie verwundert. »Verdammt.« Einen Augenblick lang empfand sie Mitleid für sich selbst. In ruhigeren Zeiten, in einer einfacheren Welt, hätte sie eine gute Nonne abgegeben, eine heilige Frau, eine weise Frau. Weise und beliebt wie Mutter Hildebrande. »Ich bin verflucht«, sagte Alys noch einmal, kostete die ewige Verdammnis auf ihrer Zunge. »Verdammt, ohne Hoffnung auf Vergebung.«
Sie blieb noch ein paar Augenblicke sitzen, dann griff sie nach der Feuerzange und holte die unversehrte Hostie aus den Flammen. Sie faßte sich kühl an. Alys sah sie an, und ihr Gesicht versteinerte angesichts des Wunders. Dann nahm sie sie in die Hände, zerriß und zermalmte sie, bis sie sich in ein, zwanzig, eintausend Stücke auflöste, und fütterte die Flammen mit den Stücken, bis sie alle verbrannt waren. Alys lächelte.
»Verdammt«, sagte sie wieder, und diesmal klang es wie eine Richtungsweisung, der sie folgen sollte.
Sie wußte jetzt, daß sie im Schloß bleiben würde, bis sie sehen konnte, in welche Richtung der Wind für den alten Lord und den jungen Hugo blies. Alys würde für immer in dieser Welt bleiben, und sie würde ihre Macht ergreifen, mit ihren weiblichen Kräften und der Kraft einer Frau, die zur Hölle verdammt war. Sie mußte Hugos Augen von sich abwenden. Sie mußte ihn dazu bringen, mit seiner Frau zu schlafen. Catherine mußte ein Kind empfangen. Ihre einzige Chance auf Flucht lag darin, dafür zu sorgen, daß der Mann, den sie begehrte, sich von ihr abwandte und zu seiner Frau zurückkehrte. Ihren Triumph mit ansehen zu müssen und einen Sohn in ihren Armen zu sehen.
Alys nickte, ihr Gesicht erhellte sich im Feuerschein. Wenn ihr das gelingen würde, wäre sie auf Monate sicher, vielleicht auf Jahre. Sie stand hoch in der Gunst des alten Lords, sie würde sich Catherines Dankbarkeit sichern. Mit diesen beiden konnte sie sich einen Ruf schaffen, der ihr Zugang zu den höchsten Häusern im Land verschaffte. Selbst wenn sie nur bei Lord Hugh bliebe und sein vollständiges Vertrauen gewänne, würde sie gut essen und warm schlafen, und sie hätte die Freiheit zu reisen, wann und wohin sie wollte. Aber Lady Catherine mußte ein Kind empfangen. Wenn sie nicht schwanger wurde, würde sie sich bald nach einem Sündenbock umschauen. Es würde ein weiteres Gottesurteil geben und danach noch eines. Und bei der Wasser- oder der Feuerprobe oder der Probe mit geweihtem Wein würde Alys versagen. Und dann stand ihr ein grauenhafter Tod bevor.
»Mir bleibt kein anderer Weg«, sagte sie leise.
In den frühen Morgenstunden, als es in der Backstube stockfinster war und die anerzogene Moral ihren Tiefpunkt erreicht hatte, beugte Alys sich vor und zog das Scheit heraus, das die Kerzenwachsfiguren verbarg.
Sie arrangierte die drei Figuren auf dem Schoß ihres Gewandes, breitete schützend ihren Umhang über die Schultern und begann den Zauberspruch, den Morach ihr beigebracht hatte. Die Worte hatten keine Bedeutung für sie, aber als sie sie in der Dunkelheit der Backstube flüsterte, glaubte sie, eine neue Macht zu spüren, die sie für sich beanspruchen konnte. Der Rhythmus der Worte glich dem eines Liedes. Alys wiederholte sie dreimal, leise, monoton. Dabei strich sie mit den Fingern über die Puppen, bis das Wachs warm wie Haut war und den Schein des Feuers annahm. Noch dreimal wiederholte Alys den Spruch, streichelte sie, machte sie sich zu eigen, dann steckte sie die Hand in den Beutel an ihrem Gürtel und zog ein gefaltetes Papier heraus. Drei Haare waren darin eingewickelt. Das lange braune klebte Alys auf den Kopf der Puppe, die Lady Catherine darstellte, das kurze schwarze war von Hugo, und von Lord Hugh hatte Alys ein langes silbernes aus seinem Kamm entfernt.
Die Puppen schimmerten im Feuerschein, jede mit ihrem Haar, und jede bewegte sich leicht, als Alys sie streichelte und ihnen zuflüsterte
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