Die weise Frau
anderen und erzählen es ihnen! Sie werden es nie glauben!«
»Nein.«
»Ach, komm schon«, drängte sie Eliza. »Mir glauben sie es nicht, wenn du es nicht auch erzählst.«
»Nein«, wiederholte Alys.
»Ich habe gefürchtet, vor Angst zu sterben«, fuhr Eliza fort. »Und als du dann so lange brauchtest, um den Eid zu wiederholen, hab ich geglaubt, sie hätten dich! So was hab ich in meinem Leben noch nicht gesehen!« Sie packte Alys am Arm. »Komm jetzt!« drängte sie. »Komm und erzähl's den anderen!«
»Laß mich los!« sagte Alys und schüttelte Eliza ab. »Laß mich los, verdammt noch mal!«
Sie schob Eliza grob beiseite und floh die Treppe hinunter durch die Halle, wo die Diener große Krüge mit Bier auf die Tische stellten, und weiter über den Hof zum Backhaus. Und erst dort, als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, gestattete sie sich Tränen. Und dann spürte sie zu ihrem Entsetzen, wie die Übelkeit ihr wieder im Hals hochstieg.
Sie kniete sich vor die Glut des Backstubenfeuers und spürte, wie die wachsende Flut der Galle sie würgte. Dann erbrach sie sich, spuckte alles in die Asche. Sechsmal würgte und spuckte sie, bis ihr Bauch leer und der Geschmack in ihrem Mund sauer war.
Und jetzt erfuhr Alys, was wahre Furcht war. Denn in der Glut des Feuers lag — unversehrt — die weiße, geweihte Hostie. Völlig unversehrt, genauso aussehend wie zu dem Zeitpunkt, als sie den Eid geschworen und sie gekaut und geschluckt hatte. Sie war ihr im Hals steckengeblieben, genau wie sie es geahnt hatte.
10
Die Nacht senkte sich dunkel und kalt über das Land, und Alys, die immer noch in der Backstube kauerte, hörte das Geschrei und das Geklapper, die das Abendessen begleiteten, und dann die streitsüchtigen Stimmen müder Diener, die abräumten. Aus dem Hof war das Gegröle der Diener zu hören, die die Burg verließen und in die Stadt gingen. Sie konnte das Marschieren der Soldaten hören, die von ihrem Dienst an den Toren zurückkehrten, ein paar Schritte im Takt und dann das Trappeln ungeordneter Schritte zum Wachraum, ein paar gebrüllte Scherze und schließlich die lähmende Stille der Nacht. Immer noch wartete Alys, daß der Mond über dem Schloß aufstieg, wartete, bis die letzten Kerzen in den Fenstern verloschen. Wartete, auf dem langsam abkühlenden Stein vor dem Backstubenfeuer sitzend, auf Mitternacht.
Als es immer kühler wurde, holte sie sich einen zerlumpten alten Mantel, der an der Tür hing, wickelte ihn um ihre schmalen Schultern und steckte ein paar Kienspäne in die sterbende Glut. Dann blieb sie ganz still sitzen und beobachtete die Flammen, still und reglos, als warte sie auf eine Erleuchtung — ein Fünkchen Klarheit oder ein Fünkchen Hoffnung. Sie war eine Sünderin, das wußte sie, weit entfernt vom Gott ihrer Mutter, vom Gott ihrer heiligen, unschuldigen Kindheit im Nonnenkloster.
Alys warf noch ein Scheit in die Glut. Das Feuer flackerte und hüllte sie in bedrohliche Schatten. Draußen im Hof schrie jemand in gespielter Angst: »Jesus rette mich!«, aber Alys bekreuzigte sich nicht. Sie wußte, daß sie niemals gerettet werden konnte. Sie hockte vor dem steinernen Herd, selbst einem Stein gleich, und sah mit an, wie die Flammen ihre Hoffnungen verzehrten. Die ganze Nacht wachte und wartete sie vor dem sterbenden Feuer wie eine Mutter, die am Bett ihres sterbenden Kindes wacht. Die ganze Nacht beobachtete Alys, wie ihre Zukunft erkaltete und zerbröckelte, und stellte sich schließlich ihrer Verzweiflung.
»Ich bin verloren«, sagte sie leise, nur dieses eine Mal.
All ihre Pläne — Flucht aus dem Schloß, Rückkehr in ein Kloster, die Wiedereinführung der römischen Kirche in England und eine Zuflucht für sie -, all das war verflogen. Alys wußte, daß sie nie eine Äbtissin, ja nicht einmal eine Novizin sein könnte. Sie konnte sich an keinen heiligen Ort mehr wagen. Sie konnte nie mehr in einem Beichtstuhl flüstern, sie konnte nie mehr geweihtes Brot essen. Heiliger Wein würde sauer werden, wenn sie ihm zu nahe kam — und sich in Blut verwandeln. Weihwasser würde gefrieren. Geweihtes Brot würde ihr im Hals stecken bleiben, und wenn sie es auf die Kanzelstufen erbrach, würden alle die Hostie sehen, unberührt von ihrem unreinen, sündigen Mund. Keiner Äbtissin würden die Zeichen einer Frau der Sünde, einer Frau, die sich dem Teufel verschrieben hatte, entgehen. Sie konnte nicht beichten und Absolution erhalten. Zu tief war sie gesunken.
Alys stieß
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