Die weiße Garde
So eine Frechheit! Die Bauern sind ja verrückt geworden. Jawdocha! Jawdo cha!« rief sie und lehnte sich aus dem Fenster. »Jawdocha!«
Aber das Vorzeichen war verschwunden und kehrte nicht zurück.
Wassilissa betrachtete die krumme Gestalt seiner Frau, ihre gelben Haare, die knochigen Ellbogen und die dürren Beine und verspürte solchen Ekel vor dem Leben, daß er Wanda beinahe angespuckt hätte. Er bezähmte sich aber, seufzte und ging in das kühle Halbdunkel der Zimmer, ohne zu begreifen, was ihn eigentlich bedrückte: Wanda (er stellte sich plötzlich ihre gelben Schlüsselbeine vor, die herausstanden wie zwei zusammengebundene Deichseln) oder der unangenehme Unterton in den Worten der süßen Erscheinung.
»Oder wir sie! Wie findet ihr das?« murmelte Wassilissa vor sich hin. »Oh, diese Bauern! Nein, was sagt man dazu? Wenn sie die Deutschen nicht mehr fürchten, dann ist’s aus. Wir sie. Ha? Ihre Zähne – eine Pracht …«
Er stellte sich plötzlich Jawdocha in der Dunkelheit nackt vor wie eine Hexe auf dem Berg.
»Frechheit: Wir sie. Aber der Busen …«
Und das war so schwindelerregend, daß Wassilissa schlecht wurde, und er ging, um sich mit kaltem Wasser zu waschen.
Unbemerkt wie immer schlich der Herbst heran. Dem fruchtreichen, goldenen August folgte der helle, staubige September, und der September brachte kein Vorzeichen mehr, sondern schon das eigentliche Ereignis, das auf den ersten Blick unbedeutend erschien.
Und zwar: an einem hellen Septembertag ging im Stadtgefängnis ein von der zuständigen Hetmanbehörde unterschriebenes Papier ein, nach dem der in Zelle 666 festgehaltene Verbrecher freizulassen sei. Das war alles.
Das war alles! Aber dieses Papier – zweifellos nur dieses Papier! – brachte soviel Kummer und Unglück, verursachte soviel Feldzüge, Blutvergießen, Brände, Pogrome, Verzweiflung und Entsetzen … O weh, o weh, o weh!
Der entlassene Gefangene hatte einen ganz einfachen, unbedeutenden Namen: Semjon Wassiljewitsch Petljura. Er selbst nannte sich nach französischer Manier Simon (und auch die Zeitungen in der STADT taten es in der Zeit vom Dezember 1918 bis Februar 1919). Simons Vergangenheit war in dichten Nebel gehüllt. Es wurde erzählt, daß er von Beruf Buchhalter sei.
»Nein, Rechnungsführer.«
»Nein, Student.«
Am Krestschatik Ecke Nikolajewskaja-Straße war ein großes elegantes Tabakwarengeschäft. Ein längliches Schild zeigte einen wohlgelungenen Türken mit einem Fez auf dem Kopf, der eine Wasserpfeife rauchte. Seine Füße steckten in weichen gelben Schnabelschuhen.
Es fanden sich Leute, die schworen, vor nicht langer Zeit gesehen zu haben, wie Simon in diesem Geschäft in eleganter Haltung hinter dem Ladentisch gestanden und Tabakwaren der Firma Solomon Cohen verkauft habe. Gleich aber fanden sich andere, die sagten:
»Das kann nicht stimmen. Er war Bevollmächtigter des Städtebundes.«
»Nicht des Städtebundes, sondern des Semstwo«, sagten dritte. »Er ist ein typischer Semstwohusar.«
Die vierten (die Zugereisten) kniffen die Augen ein, um sich besser zu erinnern, und murmelten:
»Warten Sie … Warten Sie mal …«
Und sie erzählten, daß er vor zehn, Verzeihung, vor elf Jahren eines Abends in der Kleinen Bronnaja-Straße in Moskau gesehen worden sei, unterm Arm eine in schwarzes Kaliko gewickelte Gitarre. Sie fügten sogar hinzu, er sei zu einem geselligen Abend mit Landsleuten gegangen, deshalb die Gitarre, zu einem netten interessanten Abend mit fröhlichen rotwangigen Studentinnen aus der Ukraine, mit Pflaumenwein, der direkt aus der gelobten Ukraine geholt war, mit Liedern, dem herrlichen »Hriz«.
»Bleib, o bleib …«
Bei der Beschreibung des Äußeren wurden sie unsicher, verwechselten Daten und Orte.
»Glattrasiert, sagten Sie?«
»Nein, ich glaube, er trug einen Bart.«
»Gestatten Sie, stammt er etwa aus Moskau?«
»Aber nein, er war Student.«
»Das stimmt nicht. Iwan Iwanowitsch kennt ihn. Er war Lehrer in Tarastscha.«
Teufel noch mal. Vielleicht war er gar nicht in der Kleinen Bronnaja-Straße gewesen. Moskau ist eine große Stadt, in der Bronnaja gibt es Nebel, Rauhreif, Schatten. Die Gitarre … der Türke in der Sonne … die Wasserpfeife … die Gitarre – blim – blam … Unklar, nebelhaft, oh, wie nebelhaft und schrecklich ist das alles!
Singend marschieren sie …
Ja, sie huschen vorbei, die blutüberströmten Schatten, Trugbilder, gelöste Mädchenzöpfe, Gefängnisse, Schießerei und Frost und
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