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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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Studzinskis Augen war die Unruhe der Vorahnung, in Malyschews Augen aber eine ganz bestimmte Unruhe, als sei schon alles völlig klar verständlich und miserabel. Aus Studzinskis Ärmelaufschlag ragte die lange Liste der Artilleristen seiner Division. Er hatte soeben Appell gehalten und sich überzeugt, daß zwanzig Mann fehlten. Deshalb trug die Liste Spuren der heftigen Bewegungen von Studzinskis Fingern: Sie war zerknittert.
    Im erkalteten Saal kräuselte Rauch, die Offiziersgruppe hatte Zigaretten angezündet.
    Punkt sieben erschien vor der Formation Oberst Malyschew und wurde, wie auch am Vortag, donnernd begrüßt. Der Herr Oberst trug, wie auch am Vortag, den silbernen Krummsäbel, aber die Silbergravierung spielte nicht mehr mit tausend Funken. An der rechten Hüfte des Obersts hing der Revolver im Futteral, das infolge einer dem Oberst gar nicht eigenen Zerstreutheit offenstand.
    Der Oberst stellte sich vor der Division in Positur, legte die behandschuhte Linke auf den Säbelgriff, die Rechte ohne Handschuh auf die Revolvertasche und sprach folgende Worte:
    »Ich befehle den Herren Offizieren und Artilleristen der Mörserdivision, mir aufmerksam zuzuhören! In der letzten Nacht hat sich unsere Lage, die Lage der Armee und, ich möchte sagen, die Lage des Staates Ukraine plötzlich und wesentlich verändert. Deshalb gebe ich Ihnen bekannt, daß die Division aufgelöst ist! Ich empfehle Ihnen, die Dienstgradabzeichen zu entfernen, aus dem Zeughaus alles mitzunehmen, was Sie wünschen und was jeder wegschleppen kann, nach Hause zu gehen, sich dort zu verstecken, sich durch nichts bemerkbar zu machen und eine erneute Aufforderung von mir abzuwarten!«
    Er schwieg eine Weile, und es war, als ob er damit die absolute Stille im Saal noch mehr hervorhöbe. Sogar die Glaskugeln hörten auf zu zischen. Die Artilleristen und die Offiziere blickten sämtlich auf einen Punkt im Saal – auf den gestutzten Schnurrbart des Herrn Oberst.
    Dieser fuhr fort:
    »Eine solche Aufforderung meinerseits wird erfolgen, sobald eine Veränderung der Lage eingetreten ist. Ich muß Ihnen aber sagen, daß darauf wenig Hoffnung besteht. Ich weiß selbst noch nicht, wie sich die Verhältnisse gestalten werden, aber ich denke, das Beste« (der Oberst schrie dieses Wort), »was jeder … äh … von Ihnen erhoffen kann, ist die Abkommandierung an den Don. Also: Ich befehle der ganzen Division mit Ausnahme der Herren Offiziere und der Junker, die heute nacht Wache hielten, sofort nach Hause zu gehen!«
    Ein Brausen ging durch die Menge, und die Bajonette schienen sich plötzlich zu senken. Man sah verwirrte Gesichter, wohl auch einige fröhliche …
    Aus der Offiziersgruppe löste sich Stabskapitän Studzinski, bläulichblaß, mit schielenden Augen, machte einige Schritte auf Oberst Malyschew zu und sah sich nach den Offizieren um. Myschlajewski blickte nicht zu ihm, sondern noch immer auf die gleiche Stelle – den Schnurrbart des Obersts Malyschew – und sah so aus, als wollte er, wie gewöhnlich, einen greulichen Fluch ausstoßen. Karausche hatte die Arme in die Seiten gestemmt und plinkerte. In einer kleinen Gruppe junger Fähnriche raschelte plötzlich ein unpassendes, zersetzendes Wort: »Verhaften.«
    »Was ist los? Wie?« ertönte in der Reihe der Junker eine Baßstimme.
    »Verhaften!«
    »Verrat!«
    Studzinski sah plötzlich eingebungsvoll zu der brennenden Glaskugel über seinem Kopf auf, schielte dann zu seiner Pistolentasche und rief:
    »He, erster Zug!«
    Die erste Reihe bröckelte ab, die grauen Gestalten traten hervor, eine merkwürdige Hast entstand.
    »Herr Oberst!« sagte Studzinski heiser. »Sie sind verhaftet.«
    »Er muß verhaftet werden!« gellte hysterisch einer der Fähnriche und ging auf den Oberst zu.
    »Halt, meine Herren!« rief Karausche langsam, aber die Lage gut begreifend.
    Myschlajewski sprang aus der Gruppe, faßte den expansiven Fähnrich am Ärmel und zog ihn zurück.
    »Lassen Sie mich los, Herr Leutnant!« schrie der Fähnrich mit wutverzerrtem Mund.
    »Ruhe!« tönte überaus sicher die Stimme des Obersts. Zwar zuckte sein Mund nicht weniger als der des Fähnrichs, zwar bedeckte sich sein Gesicht mit roten Flecken, aber in seinen Augen war mehr Sicherheit als in der ganzen Gruppe der Offiziere. Alle blieben stehen.
    »Ruhe!« wiederholte der Oberst. »Ich befehle Ihnen, sich auf die Plätze zu stellen und zuzuhören!«
    Stille trat ein, und Myschlajewskis Blick wurde sehr aufmerksam, als ob ein Gedanke

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