Die weiße Garde
steilab zum Krestschatik führte, vielleicht sogar schon am Museum entbrannt war. Gleich wurde ihm auch klar, daß er in dem dämmerigen Geschäft viel zuviel Zeit mit traurigen Gedanken verloren, daß Malyschew recht gehabt hatte, als er ihm riet, sich zu beeilen. Sein Herz schlug unruhig.
Turbin sah sich um und stellte fest, daß der lange, hohe gelbe Kasten des Hauses, das Madame Anjou beherbergt hatte, auf einem riesigen Hof stand, der sich bis zu der niedrigen Mauer zum benachbarten Besitz der Eisenbahnverwaltung hinzog. Turbin kniff die Augen ein, sah sich um und ging über den leeren Hof direkt auf die Mauer zu. In ihr gab es eine Pforte, zu Turbins Erstaunen nicht abgeschlossen. Durch sie gelangte er in den häßlichen Hof der Verwaltung. Die stumpfsinnigen Fensterlöcher glotzten ihn an, es war deutlich zu merken, daß die Verwaltung ausgestorben war. Durch den hallenden asphaltierten Torweg, der das Haus durchbohrte, gelangte der Arzt auf die Straße. Die alte Turmuhr des Hauses gegenüber zeigte genau vier Uhr. Es fing schon an zu dunkeln. Die Straße war vollkommen leer. Turbin sah sich finster um und ging, von einer Vorahnung getrieben, nicht bergauf, sondern bergab, dahin, wo sich in der spärlichen Anlage das schneebedeckte Goldene Tor erhob. Nur ein Fußgänger in schwarzem Mantel kam ihm mit verschrecktem Gesicht entgegen und verschwand.
Eine leere Straße wirkt immer beängstigend. Hinzu kam eine wehe Vorahnung. Turbin verzog grimmig das Gesicht, um die Unentschlossenheit zu überwinden – er mußte gehen, durch die Luft konnte er nicht nach Hause fliegen –, schlug den Kragen des Militärmantels hoch und setzte sich in Bewegung.
Da begriff er, was ihn unter anderem beunruhigte – das plötzliche Schweigen der Kanonen. Während der beiden letzten Wochen hatten sie ringsum ununterbrochen gedröhnt, doch jetzt war am Himmel Stille eingetreten. Dafür war in der STADT, unten am Krestschatik, deutlich Gewehrfeuer zu hören. Turbin hätte vom Goldenen Tor gleich links in die Gasse einbiegen müssen und wäre dann hinter der Sophienkathedrale durch weitere Gassen gemütlich nach Hause auf den Alexejewski-Hang gelangt. Hätte er das getan, so wäre sein Leben ganz anders verlaufen, aber er tat es nicht. Es gibt eine Kraft, die einen manchmal zwingt, von einer Steilwand in den Bergen hinunterzublicken. Es zieht einen zur Kühle, zum Absturz. So zog es Turbin zum Museum. Er wollte wenigstens von weitem sehen, was dort vor sich ging. Statt also einzubiegen, tat er zehn Schritte zuviel und kam auf die Wladimirstraße. Da wurde in ihm gleich Unruhe wach, und deutlich hörte er Malyschew flüstern: »Lauf!« Turbin blickte nach rechts zum fernen Museum. Er sah nur ein Stück weiße Seitenwand, finstere Türme und in der Ferne wimmelnde schwarze Gestalten, mehr konnte er nicht erkennen.
Direkt auf ihn zu kamen durch die abschüssige Proresnaja-Straße, vom in frostigen Dunst gehüllten Krestschatik her, die ganze Straßenbreite einnehmend, graue Gestalten in Soldatenmänteln. Sie waren nicht weit, etwa dreißig Schritt von ihm entfernt. Es war gleich zu sehen, daß sie schon lange liefen und vom Laufen müde waren. Nicht die Augen, sondern eine instinktive Herzensregung sagte Turbin, daß dies Petljura-Soldaten waren.
Verloren, sagte in der Herzgrube deutlich die Stimme Malyschews.
Dann fielen einige Sekunden aus Turbins Bewußtsein heraus, und er wußte nicht, was während dieser Zeit geschah. Erst hinter der Ecke der Wladimirstraße fand er sich mit eingezogenem Kopf und galoppierenden Beinen wieder, die ihn schnell von der verhängnisvollen Ecke mit dem Süßwarengeschäft »Marquise« forttrugen.
»Los, los, schneller«, hämmerte das Blut in seinen Schläfen.
Noch ein bißchen Schweigen im Rücken! Wenn er sich doch in eine Messerschneide verwandeln oder durch die Wand gehen könnte! Los … Aber das Schweigen hörte auf, das Unvermeidliche brach es.
»Halt!« brüllte eine heisere Stimme Turbin in den kalten Rücken.
Da … stach es in der Herzgrube.
»Halt!« wiederholte die Stimme ernst.
Turbin drehte sich um und blieb sogar eine Sekunde stehen, denn ihm schoß der unsinnige Gedanke durch den Kopf, sich für einen friedlichen Bürger auszugeben. Ich bin in eigenen Angelegenheiten unterwegs. Laßt mich in Ruhe! Der Verfolger, etwa fünfzehn Schritt von ihm entfernt, nahm hastig das Gewehr vom Rücken. Als der Arzt sich umdrehte, wuchs in den Augen des Verfolgers die Verblüffung, und dem
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