Die weiße Garde
wirklich nur ein Mann stand.
»Anjuta, Anjuta«, rief Myschlajewski munter, sogleich von der Bronchitis geheilt, »gib mir einen Bleistift.«
Statt Anjuta trat Karausche zu ihm und reichte ihm den Bleistift. Auf den Papierstreifen, den er aus dem kleinen Umschlag hervorgezogen hatte, kritzelte er »Tur« und flüsterte Karausche zu:
»Gib fünfundzwanzig.«
Die Tür wurde zugeschlagen und abgeschlossen.
Der verblüffte Myschlajewski ging mit Karausche nach oben. Alle, ohne Ausnahme, hatten sich versammelt. Jelena faltete das kleine Quadrat auseinander und las mechanisch vor:
»Schreckliches Unglück ereilte Lariossik Punkt Schauspieler Lipski vom Operettentheater …«
»O mein Gott«, rief Lariossik, puterrot im Gesicht. »Das ist ja mein Telegramm!«
»Dreiundsechzig Worte«, sagte Nikolka begeistert. »Sieh mal, ringsum vollgeschrieben.«
»O Gott«, rief Jelena, »was ist denn das? Ach, entschuldigen Sie, Illarion, daß ich angefangen habe zu lesen. Ich habe gar nicht mehr an Ihr Telegramm gedacht.«
»Was ist denn passiert?« fragte Myschlajewski.
»Seine Frau hat ihn verlassen«, flüsterte ihm Nikolka ins Ohr.
»So ein Skandal.«
Von der Glastür drang schreckliches Gepolter wie eine Berglawine in die Wohnung. Anjuta kreischte auf. Jelena erblaßte und sank gegen die Wand. Das Gepolter war so ungeheuer, so schrecklich und unsinnig, daß selbst Myschlajewski die Farbe wechselte. Scherwinski, ebenfalls blaß, fing Jelena auf. Aus Turbins Schlafzimmer kam Stöhnen.
»Die Tür …«, rief Jelena.
Die Treppe hinunter liefen, den ganzen strategischen Plan durcheinanderbringend, Myschlajewski, Karausche, Scherwinski und der zu Tode erschrockene Lariossik.
»Das ist schon schlimmer«, murmelte Myschlajewski.
Hinter der Glastür schnellte eine schwarze, einsame Silhouette vorbei, das Gepolter brach ab.
»Wer ist da?« brüllte Myschlajewski wie im Zeughaus.
»Um Gottes willen, um Gottes willen, öffnen Sie, Lissowitsch ist hier, Lissowitsch!« rief die Silhouette. »Ich bin Lissowitsch, Lissowitsch …«
Wassilisssa sah schrecklich aus. Die Haare, durch die seine rosige Glatze schimmerte, standen ihm zu Berge. Der Schlips war verrutscht, die Schöße seiner Jacke baumelten wie die Türen eines aufgebrochenen Schranks. Seine Augen blickten irr und trüb wie die eines Vergifteten. Er erschien auf der untersten Stufe, wankte und fiel Myschlajewski in die Arme. Myschlajewski fing ihn auf, konnte ihn kaum halten, setzte sich selbst auf die Stufe und rief heiser und verwirrt: »Karausche! Wasser …«
15
Es war abends gegen elf. In Anbetracht der Ereignisse war die Straße, auch sonst nicht sehr belebt, viel früher als gewöhnlich menschenleer geworden.
Es schneite leicht, die Schneeflöckchen schwebten vor dem Fenster langsam abwärts, und die Akazienzweige, die im Sommer die Turbinschen Fenster verdunkelten, neigten sich immer tiefer unter ihren Schneekämmen.
Mittags fing es schon an, dann folgte ein unangenehmer düsterer Abend mit Widerwärtigkeiten, die sich schwer aufs Herz legten. Das elektrische Licht brannte nur mit halber Kraft, und Wanda hatte zum Mittag Bregen gemacht. Bregen war überhaupt ein schreckliches Gericht und in Wandas Zubereitung einfach unerträglich. Vor dem Bregen hatte es eine Suppe gegeben, von Wanda mit Öl angerichtet; der mißmutige Wassilissa war vom Tisch mit dem Gefühl aufgestanden, überhaupt nichts gegessen zu haben. Am Abend hatte er viel zu tun, lauter unangenehme und schwierige Angelegenheiten. Im Eßzimmer lag der Tisch mit den Beinen nach oben, auf dem Fußboden lag ein Packen Lebid-Jurtschik-Scheine.
»Du bist dumm«, sagte Wassilissa zu seiner Frau.
Wanda verfärbte sich im Gesicht und antwortete:
»Ich weiß schon lange, daß du ein Flegel bist. Dein Benehmen in letzter Zeit hat die Säulen des Herkules erreicht.«
Wassilissa quälte der Wunsch, ihr mit voller Kraft ins Gesicht zu schlagen, so, daß sie wegflöge und gegen die Büfettecke schlüge. Und dann noch einmal und noch einmal – bis dieses verfluchte knochige Wesen endlich schwieg und seine Niederlage zugab. Er, Wassilissa, war doch erschöpft, er arbeitete letzten Endes wie ein Ochse, und er verlangte, daß zu Hause seine Meinung akzeptiert würde. Zähneknirschend beherrschte er sich, ein Angriff auf Wanda war gar nicht so ungefährlich, wie man annehmen könnte.
»Mach, was ich dir sage«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, »begreif doch, daß man das Büfett abrücken könnte,
Weitere Kostenlose Bücher