Die weiße Hexe
messen, seine Fensteröffnungen waren mit Decken und Stoffetzen verhängt. Entlang den Wänden saßen auf niedrigen Holzbänken Frauen. Ich hatte mich wie die anderen Frauen bis auf einen Wickelrock zu entkleiden. Die seltsam ursprüngliche Atmosphäre ließ Schamgefühl überflüssig erscheinen. Die Älteste hatte sich auf einem Hocker niedergelassen.
Der elegant geschnitzte, dreibeinige Hocker, auf dem ich unsicher schwankend die Balance zu halten versuchte, wurde mit Bespuckungen geweiht. Ifeoma kauerte sich auf den Lehmboden und übersetzte.
Ich hatte bereits bemerkt, daß sich in der Mitte des Raums ein großer Gegenstand befand. Es war das Bildnis einer plump wirkenden Göttin, mit Ketten behängt, mit Schnecken und Steinen geschmückt. Neben dieser wichtigsten Statue standen kleinere Skulpturen - Frauen mit Körben auf dem Kopf, Kindern auf dem Rücken, mit riesigen Brüsten ihre Babys säugend. Ein Miniaturabbild des Frauenalltags.
Die Alte stimmte einen Singsang an, murmelte
Beschwörungsformeln, ließ mich schließlich einen mit Schlangen geschmückten Metallstab küssen, mit dem sie die große Statue berührte, um ihn anschließend in der Luft herumzuwirbeln. Ihre Helferinnen trugen die Opfer herbei, die in meinem Namen der Göttin dargebracht wurden - ein Huhn, ein Ei, eine Taube, Fisch, Reis, rote Kolanüsse, roter Alligatorenpfeffer und rotes Palmöl.
Dazu hatte ich die Beschwörungsformel nachzusprechen. Sie galt dem Schöpfergott, der alle Wesen geschaffen, dem jeder zu danken und den jeder zu ehren hatte.
Dann durfte ich mich in eine der um das Ritualhaus aufgestellten, kleinen runden Hütten zurückziehen. Sie hatten mir sogar ein Bett hineingestellt, auf dem ich schlafen konnte. Eine freundliche Geste der Weißen gegenüber, die mir allerdings schnell klarmachte, warum unsere Art von Betten in dieser Umgebung nicht taugen: Sie werden feucht und ungemütlich. Da ist eine Matte auf dem Boden sinnvoller. Einheimische Mädchen mußten früher nach der ersten Periode zur Beschneidung und Schulung in diesen Hütten leben, erklärte mir Ifeoma kichernd: bis zu sieben Jahre lang, bis sie dick genug waren und einen Mann fanden, der sie heiraten wollte.
Fathouse — das war also durchaus wörtlich gemeint. Heute reichen meistens ein bis zwei Jahre, um das angestrebte Schönheitsideal zu erreichen. In dieser Zeit geht es den Mädchen gut. Im Gegensatz zu ihrem späteren Leben wird ihnen jeder Handgriff abgenommen.
Sie werden im Fluß von anderen Frauen gebadet, mit Duftölen massiert, bemalt und geschmückt. Gleichzeitig nehmen sie am Unterricht in Frauenkunde teil. Mein Besuch sollte allerdings weniger dem Erlangen einer gewissen Körperfülle dienen; ich war hier, um die Sitten und Gebräuche des Stammes in der Gemeinschaft mit anderen Frauen \mfathouse kennenzulernen.
Mein erster Schritt der Einweihung bestand aus traditionellen Ermahnungen. Die Älteste machte keinen Hehl daraus, daß sie von Sunnys starker Abneigung gegen mich als Weiße wußte. Ich sollte also den Geist der Gemeinschaft verstehen. Im Westen wird der Mensch als Individuum gesehen, in der alten afrikanischen Tradition ist das nicht der Fall. „Deine Beziehungen zu anderen Frauen sind deine Persönlichkeit“, erklärte die Älteste. „Nimm Abschied von deinem Egoismus, der nur sich selbst dient. Du mußt Teil der Gemeinschaft werden. Eine reiche Frau ist eine Frau, die reich an Beziehungen ist. Doch die Beziehungen - das sind wir alle untereinander. Wir gemeinsam bilden eine Seele.“
Natürlich stärke der Zusammenhalt die Position der Frauen gegenüber den Männern, die sich in ihren Bünden treffen. Folglich hätte ich mich nicht von den anderen Frauen fernzuhalten, sondern die ganze Zeit mit ihnen zu verbringen. Wenn ich als Victors Frau an seiner Seite leben wolle, müsse ich meine Aufgabe zusammen mit den anderen übernehmen, mit ihnen arbeiten, feiern, essen, mein Geld mit ihnen teilen. Ich wollte Victor heiraten; doch das hörte sich eher danach an, als würde ich seinen Stamm ehelichen.
„Deine Lebensaufgabe steht bei deiner Geburt fest“, fuhr die weise Alte fort, „aber du mußt lernen, sie zu erkennen, um sie erfüllen zu können.“ Das klang durchaus sinnvoll, wenn man bedenkt, wie viele Menschen sich in alle möglichen Rauschformen flüchten, weil sie nicht wissen, was ihre Aufgabe ist oder welchen Sinn ihr Leben hat.
„Die Traditionen sind dazu da“, erklärte die Alte, „den Kindern den Weg zu weisen.
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