Die weiße Hexe
In den Städten lernen sie das nicht mehr. Sie führen ein sinnloses Leben, das ihre Psyche schwächt und sie in den Konsum flüchten läßt. Sie werden Heimatlose, die sich nur dann noch an die spirituellen Kräfte wenden, wenn es ihnen an den Kragen geht.“
Ich selbst habe in Nigeria erlebt, daß in den Städten alle möglichen Formen von Sekten enormen Zulauf fanden. Eine Folge des Wandels von der ländlichen zur industriellen Wirtschaftsform, die den Verlust von Familie, Gemeinschaft und Dorf mit sich bringt. Ich mußte auch viel später noch oft an die mahnenden Worte in dem Ritualhaus denken. Damals vernahm ich alles gewissermaßen mit aufgestellten Nackenhaaren. Heute weiß ich, daß die Alte, die im Dunkel neben ihrer dicken Gottheit saß, sehr viel Wahres gesagt hat. Fast überall auf dieser Welt gibt es dieses Dilemma: Großfamilien und Dorfgemeinschaften verschwinden zugunsten von Singleleben und Kleinstfamilien.
Jetzt wollte die Älteste, daß ich mich selbst kennenlernte. Sie führte meine Hand über sechzehn vor ihr ausgebreitete Kauri-Schnecken, die ich zu bespucken hatte, was mich einige Überwindung kostete.
Anschließend warf sie die Kauris. Sie las aus den Schnecken, daß ich es vermeide, mich Konflikten zu stellen. Und sie erklärte: Konflikte kämen meist auf, wenn Dinge anfingen zu stagnieren, wenn das Ego und die Kontrolle unsere Beziehungen beeinflußten.
Ich würde zu sehr von der Kontrolle beherrscht. Konflikte seien Zeichen, daß spirituelle Energie gebremst werde. Der Konflikt sei eine Herausforderung, ein Geschenk, das uns helfen solle, voranzukommen. Durch den Konflikt könne ich mich selber kennenlernen. Aber nur, wenn ich dem anderen nicht feindlich gegenüberstehe. Ich müsse mich mit ihm zusammentun, um gemeinsam die geistigen Kräfte zu stärken. Dadurch würde ich das Problem aus einem anderen Blickwinkel sehen und zu einer Lösung kommen. In der europäischen Kultur trage man Masken, weil man Angst habe, bloßgestellt zu werden. Und darum bitte man auch niemanden um Hilfe.
Ich hatte leider nichts dabei, um all das aufzuschreiben, aber die weise Frau sagte, wenn die Zeit reif sei, würde ich mich an alles genau erinnern. Und dann solle ich es weitergeben. Denn Wissen, das man allein besitze, mache nicht glücklich.
Die Initiation, die - wie ich nun gelernt hatte - dem Erleben der Gemeinschaft diente, wurde von vielen Feiern begleitet. Bis weit nach Mitternacht wurde zu Trommelmusik getanzt, gesungen, gegessen und auch reichlich Alkohol getrunken. Als eingefleischte Abstinenzlerin hielt ich mich an Wasser, das bräunlich aussah und wie immer eisenhaltig schmeckte. Der Alkohol löste die Zungen, und die Frauen erzählten sich endlos lange Geschichten. Viele handelten von Männern und Sexualität. Mit besonderer Ausführlichkeit widmeten sie sich männlichen Potenzproblemen, für die erstaunliche Lösungen angeboten wurden. Ifeoma verschluckte sich öfters an ihrem Kichern.
Mehr und mehr wurde mir klar, daß die Initiation vcafathouse die Schule der Frauen war. Es war mindestens so sinnvoll, daß jungfräuliche Mädchen von erfahrenen Frauen Sextips bekamen, wie sie in richtiger Haushaltsführung zu unterrichten, die vom Einkaufen über Sauberkeit bis zu den Möglichkeiten des Sparens reichte. Ode sie bezüglich Ernährungsfragen, Bodenbearbeitung und - sehr wichtig - dem richtigen Umgang mit Verwandten und Freunden des Mannes aufzuklären. Weitere wichtigen Themen waren: glückliche und zufriedene Partnerschaft, Geburt eines Kindes, Erziehung, Krankheit und Tod. Die Älteste achtete bei mir besonders darauf, daß die praktische Seite stets mit der spirituellen Unterweisung einherging. Beim Ackerbau zum Beispiel ist ein Lernziel, jene Einstellung zu bekommen, die wir vielleicht Demut oder Respekt vor der Natur nennen.
Der Tag des sogenannten Erdrituals begann schon sehr früh im Morgengrauen. Wir saßen auf einer Matte am Boden vor der Hütte und aßen aus einer Schüssel gekochte Yamswurzel, die in eine scharfe rote Sauce getaucht wurde. Dazu gab es das rötlichbraune Wasser, das Ifeoma aus dem Brunnen in der Dorfmitte geschöpft hatte. Ich hatte an diesem Tag einen braun-orangefarbenen, gebatikten Wrapper und ein dunkelbraunes Kopftuch sowie eine knopflose sonnengelbe Bluse anzuziehen. Ein langer Marsch aufs Feld stand bevor. Am Ziel war der harte Boden umzugraben, eine schweißtreibende Tätigkeit, die ich nicht durchzustehen glaubte.
Doch die zarte Ifeoma mit ihren
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