Die Weiße Ordnung
Silberstücke für einen Schal, der kaum eineinhalb Ellen lang und nur halb so breit war? Zwei Silberlinge? Cerryl hatte kaum jemals ein ganzes Silberstück besessen. Er lächelte nur höflich und ging weiter.
Der erste Glockenschlag des Spätnachmittagläutens hallte über die Straßen und Plätze. Der Verkäufer am nächsten Wagen rollte Stoff aus, um die Ladefläche und die drei Körbe mit Kartoffeln abzudecken, die er nicht verkauft hatte.
»Lass uns zurückgehen.« Faltar tauchte plötzlich neben Cerryls Ellbogen wieder auf.
»Hast du etwas gefunden?«
»Nein. Nur ein Mädchen, aber nicht sonderlich hübsch.«
»Das habe ich nicht gemeint.« Cerryl schlug die Richtung zu den Gildehallen der Magier ein.
»Oh … etwas anderes? Was sollte ich mit Dingen anfangen, die keine Bücher sind? Derka würde mich nur fragen, welchen Wert sie hätten.«
»Besitz ist uns verboten, nicht wahr?«
»Ja. Hat dir das Jeslek nicht gesagt?«
»Nicht mit so vielen Worten. Er sagt nie etwas direkt.«
»Derka ist auch nicht viel besser.«
»Ich frage mich nur, warum.«
»Wir sollen alles selbst herausfinden, und wenn uns das nicht gelingt, dann …« Faltar beendete den Satz nicht.
Cerryl wusste nur zu gut, was der andere gemeint hatte – nur zu gut.
LIV
C erryl saß am Tisch und stierte auf die Schiefertafel und das Stück Kreide, das daneben lag. Der ganze Raum stank nach Kreide, ganz im Gegensatz zu all den anderen Gemächern der Magier, die er bis jetzt gesehen hatte.
Auf der anderen Seite des alten Tisches stand der dicke Esaak, er trug eine altmodische, weite weiße Robe und nicht die weiße Tunika und Hose, die Sterol und Jeslek und all die jüngeren Magier bevorzugten.
»Meisterschüler Cerryl … darf ich um deine Aufmerksamkeit bitten?« Esaaks Backen schwabbelten bei jedem Wort und seine Stimme donnerte durchs Zimmer.
»Ser?«
»Hast du überhaupt in dem Buch gelesen, das ich dir habe zukommen lassen? Grundlagen der Mathematik ist der Titel, falls du dich nicht erinnern solltest.«
»Nur ein paar Seiten, Ser.«
»Warum nicht mehr, wenn ich fragen darf? Ist das Studium der alten und kostbaren Mathematik unter deiner Würde?« Esaak machte eine halbe Drehung und ging ein paar Schritte über den staubigen Boden.
»Nein, Ser. Ich fürchte, ich bin unter der Würde der Mathematik.«
»Welch erfrischende Ehrlichkeit.« Die Worte des älteren Magiers entbehrten nicht einer gewissen Ironie. »Du willst mich also mit falscher Bescheidenheit entwaffnen.« Er hustete mit einem Donnergrollen, das noch tiefer klang als seine Bassstimme.
Cerryl war sprachlos, er wusste, er hatte Esaak auf dem falschen Fuß erwischt.
»Nun?«
»Nein, Ser. Ich kann lesen und schreiben, aber meine Ausbildung hat sich weitgehend auf Geschichte beschränkt. Der edle Jeslek hat mir aufgetragen, die Farben der Weiße zu Ende zu lesen und eine große Karte zu zeichnen, und beides innerhalb kürzester Zeit. Auch muss ich einige Anatomiezeichnungen für Magier Broka anfertigen. Ich habe das erste Kapitel der Mathematik gelesen, aber das meiste davon ist mir so fremd …«
»Sag mir, was du gelesen hast …«
Cerryl hätte am liebsten geseufzt.
»Fang an. Um was ging es im ersten Kapitel? Du wirst mir doch erzählen können, was die Worte besagten?«
Warum stellten alle Magier immer nur Fragen? Warum hielten sie nicht einfach Vorträge? Manchmal glaubte Cerryl, er müsste sie unterrichten. Er befeuchtete seine Lippen. »Ser … den Anfang habe ich noch verstanden. Darin ging es um die Geschichte der Berechnungen und den ersten Gebrauch von Zahlen in Wörtern wie ›Joch‹ oder ›Paar‹ – zwei Dinge, weil wir auch zwei Hände haben. Dann, als die Menschen mehrere Dinge zusammentrugen, wie zum Beispiel Getreide, und in größeren Ansiedlungen lebten, wurden höhere Zahlen gebraucht, und so erfanden sie Begriffe wie ›Zweienzug‹ oder ›Stein‹ …«
»Was haben die beiden gemein?«
Cerryl schaute seinen Meister so leer an, wie er sich fühlte.
»Beides ist ein Paar, das mit einer geraden Zahl multipliziert wird«, schnauzte Esaak ihn an. »Ein Stein sind zwei Handvoll mal zehn. Ein Zug sind zwei Jäger mal zehn genommen. Fahre fort.«
»Dann wird in dem Buch etwas behandelt, das Klasseneinteilung genannt wird …«
»Und als es ein wenig schwieriger wurde, hast du aufgehört zu lesen?«
»Nein, Ser. Ich habe weitergelesen. Ich habe noch verstanden, dass man bestimmte Mengen von Dingen in Teilmengen der gleichen
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