Die Weiße Ordnung
die Seite geglättet hatte, rückte er sich den Hocker zurecht.
»Sehr gut«, rief Tellis, als er ins Arbeitszimmer eilte. Der Schreiber wühlte im untersten Fach des Schrankes und zog ein rechteckiges Stück Pergament heraus, das er auf den Schreibtisch legte.
»Übungspergament. Nicht zum Schreiben, sondern zum Kratzen.« Er schloss den Mund und hüstelte. »Hast du gesehen, wie ich deine Fehler immer wegkratzen muss?« Tellis zeigte ihm das scharfe Messer. »Es wird Zeit, dass du besser wirst, das schaffst du jedoch nur durch Übung. Die Klinge muss sehr scharf sein und unbedingt sauber. Eine schmierige Klinge – und das Öl vermischt sich mit der getrockneten Tinte und hinterlässt Flecken und Punkte, sodass du noch tiefer kratzen musst, um sie zu entfernen.«
»Ja, Ser.« Das klang logisch in Cerryls Ohren.
»Und du musst die Klinge schräg ansetzen, fest, aber gefühlvoll, sodass du die Tinte vom Pergament abkratzen kannst. So wie hier. Sieh mir zu.« Tellis wischte das Messer mit einem sauberen weißen Tuch ab, dann hängte er das Tuch wieder an einen Haken. Das Messer verschwand fast zwischen seinen Fingern, als er die Klinge in der obersten Zeile des Übungsblattes ansetzte. »Siehst du?«
Cerryl zwinkerte. Dort wo gerade noch drei Worte zu sehen gewesen waren, strahlte das Pergament nun so weiß, als wäre es nie beschrieben gewesen.
»Kein Ersatz für gutes Pergament. Papier, selbst das Strohpapier, ist nach ein paar Jahren nur noch Staub, besonders hier in Fairhaven. Ein Buch aus Pergament hält ewig, wenn es pfleglich behandelt wird.« Tellis hielt inne. »Ich zeige es dir noch einmal. Schau genau hin.«
Cerryl sah zu, wie zwei weitere Worte sich in Nichts verwandelten.
»Nun versuch du es.«
Cerryl nahm das Messer und das Tuch und wischte die Klinge ab, wie er es bei Tellis gesehen hatte.
»Gut. Üb nur ja keinen Druck auf die Klinge aus. Stumpf wird sie früh genug.«
Dann bewegte der Lehrling die Klinge über das nächste Wort der Zeile und er hörte schon am Kratzgeräusch, dass er es nicht richtig machte.
»Nein … nein …« Tellis Stimme verriet seine Ungeduld. »Halt die Klinge so schräg, wie ich es dir gezeigt habe. Du willst doch nur eine dünne Schicht des Pergaments abkratzen, so dünn, dass es wieder sauber ist. Du musst die Maserung und das Haar des Pergaments spüren, so glatt es auch sein mag.«
Cerryls Finger fühlten sich bereits an wie dicke Daumen, doch erneut setzte er das Messer auf dem abgenutzten Palimpsest auf und versuchte, dem Beispiel Tellis’ zu folgen.
»Schon besser …« Tellis richtete sich auf. »Wenn du die nächsten zwei Seiten abgeschrieben hast, probierst du es noch einmal. Ein gutes Palimpsest – wirklich gutes – sollte so glatt und sauber sein, dass niemand außer den besten Schreibern es von einem neuen Pergament unterscheiden kann.«
»Ja, Ser.«
»Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, schreib noch zwei Seiten ab und übe dann weiter auf dem Palimpsest. Ich muss mich bei Nivor über die letzten Galläpfel beschweren. Sie vermischen sich nicht richtig.« Tellis schüttelte den Kopf. »Und im Eisensulfat ist zu viel Schwefel. Mit der Zeit wird die Tinte die Seiten verbrennen, aber das werde ich bei meinen Büchern nicht zulassen.«
»Wie lange dauert das?«, fragte Cerryl.
»Jahre, Cerryl, mein Junge, aber Bücher müssen ewig halten, nicht bloß ein paar Jahre. Was nützt ein Buch, das noch vor seinem Schreiber zu Staub zerfällt?«
Cerryl nickte, obwohl er nicht sicher war, ob er mit seinem Meister darin übereinstimmte. Viele Menschen stellten Waren her, die ihren Hersteller nicht überlebten, und doch wurden die Waren geschätzt. Und das meiste, was er bisher abgeschrieben oder gelesen hatte, hatte nur von alltäglichen Dingen gehandelt und hätte nicht niedergeschrieben werden müssen, oder es hatte sich um Dinge gehandelt, die den meisten Menschen nicht viel nützten.
Als Tellis hinaus in den kalten Morgen entschwunden war, sah sich Cerryl das Buch auf dem Vorlagenhalter – Die Wissenschaft des Himmels – genauer an und las die Zeilen laut vor.
… wussten nicht, dass die Sterne nicht auf einer entfernten, gewölbten Fläche befestigt sind, sondern in großen Abständen zueinander in einem so unvorstellbar unendlichen Raum verstreut liegen …
Unvorstellbar unendlich? Die Worte bohrten sich in Cerryls Gedanken. So unendlich, dass man die Entfernung nicht verstehen oder begreifen konnte? Er schüttelte den Kopf. Warum
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