Die Weiße Rose
gab es kein Zurück mehr. Jetzt war nur noch eines möglich: mit Umsicht und Nüchternheit dafür zu sorgen, daß möglichst wenig andere hineingezogen wurden. Und mit aller Deutlichkeit noch einmal zu verkörpern, was man hatte verteidigen und hochhalten wollen: den unabhängigen, freien, vom Geist geprägten Menschen …
Es herrschte zwischen ihnen, obwohl sie keine Verbindung miteinander hatten, ein starkes Einvernehmen: alle ›Schuld‹, alles, alles auf sich zu nehmen, um die anderen zu entlasten. Bei der Gestapo rieb man sich die Hände über die reichhaltigen Geständnisse. Angestrengt tasteten die Geschwister ihre Erinnerung nach den ›Verbrechen‹ ab, die sie sich zur Last legen könnten. Es war wie ein großer Wettkampf um das Leben der Freunde. Und nach jedem gelungenen Verhör kehrten sie in ihre Zellen zurück, nicht selten mit einem Anflug von Genugtuung.
So müssen sie sich in jenen Tagen in einem Raum des Daseins befunden haben, der sich jenseits der hier Lebenden, aber auch losgelöst vom Tod befand, dem Leben tief verbunden. – Beinahe lächerlich und abgeschmackt mußten die Maßnahmen der Polizei auf sie wirken, sie vor Selbstmordversuchen zu bewahren. Keine Klinge, kein Gegenstand durfte in der Zelle sein, selbst das Alleinsein wurde nicht gewährt, immer mußte ein Mitgefangener ihnen nahe sein, damit sie ja ihr Leben nicht selbst auslöschten. Tag und Nacht brannte helles Licht in den Zellen der Todeskandidaten.
Schwere Stunden der Verantwortung und Sorge kamen, vor allem für Hans. Würden die Vernehmungen weiterhin so verlaufen, wie es notwendig war? Würde er stets die Geistesgegenwart zur richtigen Antwort bewahren, damit nicht ein Name, ein verdächtiger Hinweis entschlüpfte? Mit hellwachem Interesse beteiligten sie sich an ihren Vernehmungen. In den kurzen Pausen, die ihnen dazwischen vergönnt waren, konnte Hans, nach den Berichten seines Mitgefangenen, von einer gelösten Fröhlichkeit sein. Dann aber folgten wieder schwere Stunden, die Sorge um die Freunde, der Schmerz, den Angehörigen solchen Abschied zumuten zu müssen.
Schließlich kam der letzte Morgen. Hans trug seinem Zellengenossen noch Grüße an die Eltern auf. Dann gab er ihm die Hand, gütig und beinahe feierlich: »Wir wollen uns jetzt verabschieden, solange wir noch allein sind.« Darauf drehte er sich stumm zur Wand und schrieb etwas an die weiße Gefängnismauer. Eine große Stille war in der Zelle. Kaum hatte er den Bleistift aus der Hand gelegt, rasselten die Schlüssel, und die Wachtmeister kamen, legten ihm Fesseln an und führten ihn zur Gerichtsverhandlung. Zurück blieben die Worte an der weißen Wand, Goetheworte, die sein Vater oft bei nachdenklichem Auf- und Abgehen vor sich hingemurmelt hatte, und über deren Pathos Hans hatte manchmal lächeln müssen: »Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten.«
Die Möglichkeit, sich einen Anwalt zu wählen, gab es für sie nicht. Es wurde zwar ein Pflichtverteidiger herzitiert. Dieser war jedoch nicht viel mehr als eine ohnmächtige Marionettenfigur. Von ihm war nicht die geringste Hilfe zu erwarten. »Wenn mein Bruder zum Tode verurteilt wird, so darf ich keine mildere Strafe bekommen, denn ich bin genauso schuldig wie er«, erklärte Sophie ihm gelassen. Mit allen ihren Kräften und Gedanken war sie in diesen Tagen bei ihrem Bruder, um den sie sich oft große Sorge machte, weil sie die Last ahnte, die auf ihm lag. Sie wollte von dem Verteidiger wissen, ob Hans als Frontsoldat das Recht auf den Erschießungstod habe. Darauf erhielt sie nur eine unsichere Antwort. Über ihre weitere Frage, ob sie selbst öffentlich erhängt oder durch das Fallbeil getötet werde, war er geradezu entsetzt. Derartiges, noch dazu von einem Mädchen gefragt, hatte er nicht erwartet.
Sophie hatte in diesen letzten Nächten, sofern sie nicht vernommen wurde, den festen Schlaf eines Kindes. Ein einziges Mal ergriff sie eine tiefe Erregung: in dem Augenblick, als ihr die Anklageschrift ausgehändigt wurde. Nachdem sie diese gelesen hatte, atmete sie auf. »Gott sei Dank«, war alles, was sie sagte.
Dann streckte sie sich auf ihr Lager hin und stellte mit leiser, ruhiger Stimme Betrachtungen über ihren Tod an. »So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich soll gehen. Aber wieviele müssen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wieviel junges, hoffnungsvolles Leben … Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.« Es ist
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