Die Weiße Rose
Koffer auf den Weg zur Universität machten, obwohl Sophie in der Nacht einen Traum gehabt hatte, den sie nicht aus sich verjagen konnte: Die Gestapo war erschienen und hatte sie beide verhaftet.
Kaum hatten die Geschwister die Wohnung verlassen, klingelte Otl Aicher, ein Freund, an ihrer Tür, der ihnen eine dringende Warnung überbringen sollte. Da er aber nirgends erfahren konnte, wohin die beiden gegangen waren, wartete er. Von dieser Botschaft hing vielleicht alles ab.
Mittlerweile hatten die beiden die Universität erreicht. Und da in wenigen Minuten die Hörsäle sich öffnen sollten, legten sie rasch entschlossen die Flugblätter in den Gängen aus und leerten den Rest ihres Koffers vom zweiten Stock in die Eingangshalle der Universität hinab. Aber zwei Augen hatten sie erspäht. Sie hatten sich vom Herzen ihres Besitzers gelöst und waren zu automatischen Linsen der Diktatur geworden. Es waren die Augen des Hausmeisters. Alle Türen der Universität wurden sofort geschlosen. Damit war das Schicksal der beiden besiegelt.
Die rasch alarmierte Gestapo brachte meine Geschwister in ihr Gefängnis, das berüchtigte Wittelsbacher Palais. Und nun begannen die Verhöre. Tage und Nächte, Stunden um Stunden. Abgeschnitten von der Welt, ohne Verbindung mit den Freunden und im ungewissen, ob einer von ihnen ihr Schicksal teilte. Durch eine Mitgefangene erfuhr Sophie, daß Christl Probst etliche Stunden nach ihnen ›eingeliefert‹ worden war. Zum erstenmal verlor sie ihre Fassung, und eine wilde Verzweiflung wollte sie übermannen. Christl, gerade Christl, den sie so sorgsam geschont hatten, weil er Vater von drei kleinen Kindern war. Und Herta, seine Frau, lag in diesen Tagen mit dem Jüngsten im Wochenbett. Sophie sah Christl vor sich, wie sie ihn mit Hans an einem sonnigen Septembertag besucht hatte, in seinem kleinen Heim in den oberbayerischen Bergen. Den zweijährigen Sohn hatte er im Arm gehabt und wie verzaubert in das friedliche Kindergesicht geblickt. Seine Frau konnte kaum mehr an eine Geborgenheit in den eigenen vier Wänden glauben. Denn vor Jahren hatten ihre beiden Brüder bei Nacht und Nebel vor der Gestapo fliehen müssen, und niemand wußte genau, ob sie noch lebten. Aber wenn es noch einen Funken Rechtlichkeit in diesem Staate gab, dachte Sophie verzweifelt, dann konnte und durfte Christl nichts geschehen.
Alle, die in jenen Tagen noch mit ihnen in Berührung kamen, die Mitgefangenen, die Gefängnisgeistlichen, die Gefangenenwärter, ja selbst die Gestapobeamten, waren von ihrer Tapferkeit und von der Noblesse ihrer Haltung aufs stärkste betroffen. Ihre Gelassenheit und Ruhe standen in merkwürdigem Kontrast zu der hektischen Spannung, die das Gestapogebäude beherrschte. Ihre Aktion hatte bis in die höchsten Stellen von Partei und Regierung hinein große Beunruhigung hervorgerufen. Ein lautloser Triumph der ohnmächtigen Freiheit schien sich hier zu vollziehen, und die Nachricht davon lief wie ein Vorfrühlingswind durch die Gefängnisse und KZ ’s. Manche, die ihnen im Gefängnis begegneten, haben uns über die letzten Tage und Stunden vor ihrem Tod berichtet. Diese vielen kleinen Berichte, sie fügten sich wie winzige Magnete zusammen zu einem Ganzen, zu einigen Tagen starken Lebens. Es war, als wollten sich in diesen Tagen viele ungelebte Jahre zu einer verdichteten Daseinskraft zusammendrängen.
Nach dem Tod meiner Geschwister wurden meine Eltern, meine Schwester Elisabeth und ich in ›Sippenhaft‹ genommen. Im Gefängnis, in den endlos sich hinziehenden Stunden des Schmerzes, dachte ich über den Weg von Hans und Sophie nach und versuchte durch das Filter der Trauer hindurch den Sinn ihres Handelns zu begreifen.
Am zweiten Tag nach ihrer Verhaftung war ihnen klar geworden, daß sie mit dem Todesurteil zu rechnen hatten. Zunächst, bis unter der Last des Beweismaterials alle ihre Verschleierungsversuche sinnlos geworden waren, hatten sie durchaus einen anderen Weg gesehen und
gewollt:
zu überleben und nach dem Ende der Gewaltherrschaft an einem neuen Leben mitzuwirken. Noch wenige Wochen zuvor hatte Hans mit Bestimmtheit erklärt – vielleicht angesichts der zahlreichen Todesurteile, die damals gefällt wurden: »Dies muß unter allen Umständen vermieden werden. Wir müssen leben, um nachher da zu sein, weil man uns braucht. Gefängnis und KZ – meinetwegen. Das kann man überstehen. Aber nicht das Leben riskieren.«
Nun aber hatte sich die Situation jäh geändert. Nun
Weitere Kostenlose Bücher