Die Weiterbildungsluege
Regeln der Kunst
zu überzeugen, dass er quicklebendig ist: »Schauen Sie sich doch mal an. Sie haben rosafarbene Haut. Sie atmen. Sie sitzen
hier und fallen nicht vom Stuhl. Sie leben.« Der Patient: »Nein, ich bin tot.« So geht es hin und her, bis der Psychiater
einen genialen Einfall hat. Er fragt: »Sagen Sie, können Leichen bluten?« Darauf der Patient: |64| »Nein, weil alle Körperfunktionen zum Stillstand gekommen sind, kann eine Leiche nicht bluten.« Siegesgewiss und mit Glanz
in den Augen sagt der Psychiater: »Also gut. Dann wollen wir mal ein Experiment machen. Ich werde eine Nadel nehmen, Ihnen
damit in den Finger stechen und schauen, ob Sie bluten.« Der Patient hat nichts dagegen. Der Psychiater sticht ihm also in
den Finger – das Blut fließt. Der Patient schaut sich die Sache völlig verblüfft an und ruft: »Verdammt. Leichen bluten doch.«
Die Moral von der Geschichte ist: Wir Menschen neigen dazu, uns die Wirklichkeit immer so zurecht zu dichten, dass sie unserer
Sicht der Dinge entspricht. Die besten Argumente, selbst andere Erfahrungen, bringen uns vom einmal gefassten Denkrahmen nicht
so leicht ab. Insofern ist es unmöglich, in ein paar Tagen Training Teilnehmer zu einer neuen Einstellung zu bringen. Selbst
gewiefte Therapeuten beißen sich an ihren Patienten die Zähne aus, wenn es darum geht, eingefahrene Muster zu verändern. Doch
als Trainer versucht man immer wieder gern, das Unmögliche möglich zu machen.
In einem eintägigen Führungsworkshop ging es zum Beispiel darum, den Führungskräften Hilfestellungen für ihre Praxis zu geben.
Ich hatte einen IT-Leiter in der Seminargruppe, der über den Personalabbau in seiner Abteilung klagte. Die anderen Teilnehmer
konnten ihn gut verstehen, weil sie aus demselben Unternehmen kamen. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen brachten sie gute
Ansatzpunkte ein, wie er seine Situation positiv beeinflussen konnte. Doch der 58-Jährige überzeugte uns mit allen möglichen
Begründungen, dass die Lösungen graue Theorie seien. Jeden guten Gedanken eliminierte er mit Killerphrasen wie: »Das geht
nicht, weil …«, »Das habe ich auch schon versucht …«, »Früher habe ich auch so gedacht …«. Seine weinerliche Stimme ließ uns
irgendwann gemeinschaftlich in eine tiefe Depression mit galoppierender Hoffnungslosigkeit verfallen. Wir sehnten uns nach
der Brücke, von der wir in den Freitod springen dürften. Wir glaubten schließlich auch, dass nur eine frühzeitige Pensionierung
in zwei Jahren die einzige Lösung für ihn sei. |65| Was der bärtige IT-Leiter aber wirklich ausdrückte war: »Ich will mich nicht mit mir auseinandersetzen oder etwas verändern.«
Er klagte lieber wie alte Menschen im Bus. Und so war die Seminarteilnahme für die Katz.
In einem anderen Kurs begegnete ich dem Abteilungsleiter Herrn Gerber, schätzungsweise Mitte 40, verheiratet, zwei kleine
Töchter. Schon in den ersten drei Minuten im Training – als ich ihn sah, mit seinem ovalen bleichen Gesicht, den leichten
Lachfalten, dem karierten Jackett und dieser entstellenden Hornbrille – kam in mir die Ahnung hoch: »Ein lieber Familiendaddy.
Keinen Biss im Business. Kann sich nicht durchsetzen. Nicht mal gegenüber seinem Optiker.« Als er sich in der Erwartungsabfrage
äußerte, sprudelte es aus ihm heraus: »Mein Chef will, dass ich an meiner Zielstrebigkeit arbeite. Aber eigentlich ist mein
Chef das Problem. Der lässt mich nicht machen. Ich wollte hier ein paar Techniken lernen, dass er mir nicht dauernd reinredet.
Ständig verändert er die Richtung und die Prioritäten.« Ihm kam überhaupt nicht in den Sinn, dass er etwas an sich verändern
musste. Problem: Selbstbild und Fremdbild. In der Firma hatte er das Image, dass er sich nicht um Aufgaben kümmerte. »Ehe
du den ansprichst, kannst du es besser selbst machen«, hieß es. Er vergaß Termine, Aufgaben verschwanden bei ihm wie in einem
Schwarzen Loch. Er ging auch nicht in den Konflikt mit anderen Managern oder seinem Chef, um Projekte nach vorne zu treiben
oder Rollenverteilungen zu klären. Und auch bei seinem Team hatte er seine Glaubwürdigkeit verloren. Erst kürzlich hatte er
mit drei Monaten Vorplanung für sein zehnköpfiges Team ein Offsite-Meeting angesetzt. Thema: Besser zusammenarbeiten, Performance
der Gruppe steigern – das Übliche also. Eine Woche vor dem besagten Termin sagte er das Meeting ab, lud den angeheuerten Moderator
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