Die Weiterbildungsluege
Darin spielt er Chuck Noland, den Top-Manager eines weltweit tätigen Logistikunternehmens. Für ihn zählen Schnelligkeit,
Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit mehr als sein Privatleben. Nach einem Flugzeugabsturz landet er auf einer einsamen, unbewohnten
Insel und überlebt. Denn er lernt wie Robinson Crusoe notgedrungen die erforderlichen Verhaltensweisen. Da stellt sich nun
die Frage, ob auch Teilnehmer von betrieblichen Weiterbildungsveranstaltungen den nötigen Leidensdruck haben, um Neues zu
lernen. Dazu sprach ich mit einem sehr erfahrenen HR-Manager. Er kannte nur einen Fall, bei dem der Druck groß genug war,
um sich wirklich vermitteltes Wissen einzupauken. Ein Bekannter von ihm ist bei einer großen deutschen Fluggesellschaft dafür
verantwortlich, die Flieger nach der Wartung abzunehmen. Nur wenn er den Stempel mit der Freigabe gibt, darf sich ein Flugzeug
in die Lüfte erheben. Um diesen verantwortungsvollen Job zu erfüllen, sind permanente Schulung und Lernzielkontrolle erforderlich.
Er muss in bestimmten zeitlichen Abständen bei einem Audit des Flugzeugbauers in Atlanta sein Wissen nachweisen. »Das sind
vier dicke Leitz-Ordner in englischer Sprache«, erzählte der HR-Manager. Fällt man durch die Prüfung, gibt es noch eine letzte
ultimative Wiederholungschance. »Wenn man es dann immer noch nicht draufhat, kann |88| man den Job vergessen. Da gibt es den digitalen Zwang. Entweder du schaffst es oder du fliegst raus.« Eine derartige Praxis
ist im üblichen Leben der Weiterbildungslandschaft in Firmen äußerst selten anzutreffen. Es gibt zwar die einen oder anderen
Wissenstests, aber die Konsequenzen sind nicht wirklich weitreichend, wenn sich eklatante Lücken zeigen. Was soll auch passieren?
Schlechte Bewertung im Jahresbeurteilungsgespräch? Eintrag in die Personalakte? Abmahnung wegen Lernverweigerung? Ich kenne
kein Unternehmen, dass diese Register zieht oder sogar Gehaltserhöhungen davon abhängig macht. Vermutlich auch deshalb, weil
in Windeseile der Betriebsrat vor der Tür stünde und beklagen würde, dass die Teilnehmer zu wenig Unterstützung bekommen haben,
um die Inhalte richtig zu lernen. Und über diesen Punkt kann man sich dann herrlich streiten.
Folglich gibt es keinen Leidensdruck in Unternehmen, um das Implementieren von Wissen voranzutreiben. In Hinblick auf Verhaltenslernen
sind die Möglichkeiten noch dünner. Da kann man nicht mal eine schriftliche Lernzielkontrolle einsetzen. Man könnte höchstens
mittels eines Assessment-Centers bestimmte Verhaltensweisen überprüfen. Doch der Ansatz ist aufgrund von Kosten und Aufwand
nicht praktikabel. Die einzige Organisationsform, die einen gewissen Leidensdruck für das Verhaltenslernen aufbauen kann,
ist das Call-Center. Denn wie in keinem anderen Umfeld sind die Leistungen eines Mitarbeiters ständig transparent und messbar.
Hinzu kommt häufig eine Armada von Coaches, die in steter Routine mit den Telefonagenten über ihre aufgezeichneten Gespräche
sprechen und Verbesserungen aufzeigen. Hier ist ein Stück weit der gläserne Mitarbeiter Wirklichkeit. Wer sich nicht bewegt,
wird nicht übersehen. Und das drückt sich dann auch klar in Leistungsbeurteilungen aus. Doch auch hier gibt es Grenzen des
Leidensdrucks. Der Leiter eines Call-Centers erzählte mir von einer Mitarbeiterin, die am Telefon unheimlich freundlich und
kundenorientiert auftritt. Die Kunden sind begeistert von ihr. Doch die Telefonagentin überschritt chronisch die geforderte
Gesprächszeit |89| von durchschnittlich drei Minuten. Ein großes Manko in der Produktivität. Sie schmälerte nämlich dadurch die Erreichbarkeit
für weitere Anrufer. Alle Trainingsbemühungen, ihr aufzuzeigen und verständlich zu machen, wie sie ihre Gespräche kürzen und
trotzdem weiterhin kundenorientiert bleiben könnte, scheiterten auf der ganzen Linie. Auch Druck auf die Mitarbeiterin führte
nicht zum gewünschten Ergebnis. Auf der anderen Seite waren ihrem Chef die Hände gebunden, da die Kollegin nur in diesem bestimmten
Ausschnitt ihrer Arbeitsrolle nicht zu bewegen war. Und eine engere Führung – das verhüllende Wort für Psychoterror am Arbeitsplatz
durch beständiges Nerven und Fordern – schied bei ihm aus ethischen Gründen aus. Andere schrecken davor aber im Notfall auch
nicht zurück.
Die Praxis zeigt, dass es genügend Mitarbeiter in Unternehmen gibt, die gegenüber Leidensdruck ausgesprochen stabil
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