Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
polternden Schritte und die Stimmen kamen näher. Jeden Moment würden sie den oberen Treppenabsatz erreichen.
Sie schloss leise die Tür hinter sich, lief zum Fenster und sah hinaus. Mit einem gewagten Sprung und etwas Glück könnte sie eines der Anbaudächer erreichen - allerdings befand es sich genau im Blickfeld des Hofwächters. Eine unbemerkte Flucht kam auf diesem Weg nicht in Frage.
Die Stimmen näherten sich, eine grobe, männliche und die leisere einer jungen Frau.
Jolly blieb kaum Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Rasch lief sie zu einem der Schränke und schob sich hinein, geradewegs in die weiche, muffige Wärme seidener Kleiderberge. Ein atemberaubendes Geruchsgemisch aus Duftwassern, Männerschweiß und feuchtem Stoff umhüllte sie. Mit dem Dolch in der Hand zog sie die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu. Von hier aus konnte sie genau aufs Bett schauen. Nun musste sie nur noch den richtigen Augenblick abwarten.
Die Zimmertür flog auf und schlug gegen die Wand.
»Und wenn die Spanier wirklich angreifen?«, fragte die Frau und trat als Erste in Jollys Blickfeld. Sie musste Anfang zwanzig sein, war sehr schlank, bildhübsch, wenn auch zu grell geschminkt. Langes dunkelrotes Haar fiel ihr glatt über die Schultern. Das Kleid, das sie trug, schien vor allem aus Bändern und dünnen Stoffstreifen zu bestehen und zeigte weit mehr Haut, als es verbarg.
Dirnen wie diese gab es auf New Providence zu hunderten, Frauen, die das Ausnehmen von Piratenbörsen mit äußerster Raffinesse und ganzem Körpereinsatz betrieben. Jolly hatte nicht viel für sie übrig, schaute aber auch nicht auf sie herab - wie alle Gesetzlosen der Karibik arbeiteten sie hart für ihren Lebensunterhalt.
Das Mädchen ließ sich mit einem gekünstelten Seufzer auf der Bettkante nieder.
»Die Spanier?« Kenndrick machte einen verächtlichen Laut und erschien nun ebenfalls vor Jollys Türspalt. »Die haben keine Chance, nah genug an die Insel ranzukommen. Ich hab überall auf den Bergen Männer postiert, die Ausschau nach einer Armada halten. Sobald sich mehr als drei Schiffe auf einmal nähern, geben sie Alarm.«
Kenndrick war groß und kräftig, trug einen reich verzierten Gehrock, Kniehosen mit Goldfaden und spiegelblank polierte Stiefel. Sein lockiges Haar war lang und ein wenig zerzaust. Ein goldener Ohrring baumelte an seinem linken Ohr, das rechte fehlte - es war ihm bei einem Gefecht abgeschossen worden, geblieben war nur eine Narbe, die er für gewöhnlich eitel mit seiner Lockenpracht verdeckte. Jetzt aber konnte Jolly die rosafarbenen Reste der Ohrmuschel deutlich erkennen.
»Du hast großes Vertrauen in deine Männer«, sagte die junge Frau und räkelte sich. »Keine Angst, dass sie sich von Spionen der Spanier bestechen lassen?«
»Meine Leute sind Ehrenmänner.« Kenndrick zog unbeholfen seinen Gehrock aus und schleuderte ihn über eine Truhe. »Ich kann mich auf jeden Einzelnen verlassen… wie auf einen Bruder.«
Erst jetzt fiel Jolly auf, dass Kenndricks Stimme schwankte. Er war angetrunken, obwohl es hieß, dass er kaum Alkohol anrührte - ungewöhnlich für einen Piraten. Seine Bewegungen waren fahrig, seine Schritte unsicher.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte das Mädchen säuselnd und entblößte wie beiläufig die Knie.
Liebe Güte, nicht auch das noch, dachte Jolly. Muss ich das wirklich mit ansehen? Ist ja widerlich.
Kenndrick näherte sich mit schiefem Grinsen dem Bett. »Nur ein bisschen . schwindelig. Frag mich, woher. Hab doch gar keinen Rum getrunken.« Er hielt kurz inne, bevor er sich breitbeinig vor dem Mädchen aufbaute. »Wenn ich’s nicht besser wüsste, könnte ich wetten, mir hätte einer was ins Essen gemischt.«
Die junge Frau hob die Augenbrauen. »Wer würde denn so was wagen?«
Der Piratenkaiser lachte hämisch. »Ha, kein Einziger! Haben alle das Herz in der Hose sitzen, wenn ich sie nur schief anseh, diese Memmen.«
»Kein Wunder, bei solch starken Muskeln.«
Jolly verdrehte die Augen.
Kenndrick grinste. »Komm, zieh mir die Stiefel aus.«
Er setzte einen Fuß neben dem Mädchen auf die Bettkante. Eine Sekunde lang sah es aus, als würde es zögern, dann packte es den Stiefel und machte sich daran zu schaffen.
Kenndrick lachte immer noch, dann aber verlor er plötzlich das Gleichgewicht und polterte prompt aufs Hinterteil. Benommen blieb er am Boden sitzen.
Jetzt!, durchfuhr es Jolly.
Sie stieß die Schranktür auf, sprang von hinten auf Kenndrick zu und presste die
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