Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
näherten. Rasch drängten sie sich zwischen die Männer und Frauen, um seinem misstrauischen Blick zu entgehen.
Jolly flüsterte Walker ins Ohr: »Glaubst du, sie suchen uns hier?«
»Dein Mahlstrom?«
»Kenndrick.«
Walker massierte sich nachdenklich die Schläfe.
»Falls er wirklich von New Providence entkommen ist, ist Tortuga ein nahe liegendes Ziel. Die meisten hier akzeptieren ihn als Piratenkaiser. Natürlich ist die Carfax das schnellere Schiff. Andererseits haben wir -«
»Einen Tag verloren«, sagte sie unwirsch. »Ja, ich weiß.«
»Nicht eingerechnet die Zeit, die uns das zusätzliche Gewicht deiner Schweinefreunde während der ersten drei Tage gekostet hat.« Er war zu beunruhigt, um Jolly ernst gemeinte Vorwürfe zu machen. »Ja«, sagte er nach einer kurzen Pause, »Kenndrick könnte hier sein.«
»Und ein Kopfgeld auf mich und Soledad ausgesetzt haben?«
»Schon möglich.«
Jolly nagte an ihrer Unterlippe und hätte sich am liebsten inmitten der Piratenhorde winzig klein gemacht. Die wilden Kerle dünsteten üble Gerüche aus, nach Schnaps und Bier, nach Rauch und Schweiß. Trotzdem war sie mit einem Mal dankbar für die Enge, denn sie verbarg sie vor den Blicken des Mannes, den Walker angesprochen hatte.
Als sie sich suchend nach ihm umschaute, konnte sie ihn nirgends mehr entdecken.
»Gibt’ s Probleme?«, fragte Griffin, den sie in all dem Trubel für einen Moment aus den Augen verloren hatte. Munk war gleich hinter ihm.
»Alles in Ordnung«, erwiderte sie blass.
»Was ist jetzt mit dem Orakel?«, fragte Munk. »Gehst du selbst hin, oder soll ich?« Die kleine Schatulle mit der Spinne lag in seiner Hand, der Deckel war geschlossen.
»Ich mach das.« Jolly nahm das Kästchen.
»Das ist keine gute Idee«, sagte Walker warnend.
»Falls sie uns wirklich suchen sollten . « Er brach kopfschüttelnd ab, als Jolly sich ungeachtet seiner Worte durch die Menge drängelte.
Vorn war der Lärm noch lauter, aber die vielen Köpfe verdeckten die Sicht auf das, was sich dort abspielte. Jolly machte sich so schmal, wie sie nur konnte, kletterte einmal sogar zwischen den Beinen eines hünenhaften Freibeuters hindurch. Munk wollte ihr folgen, aber sie war viel flinker als er und erreichte die erste Reihe lange vor ihm. Jemand fluchte, als sie sich vordrängelte, stieß sie jedoch nicht beiseite, als er bemerkte, dass sie kleiner war und er über sie hinwegblicken konnte.
Die Galionsfigur erhob sich über dem Kai, beschienen von mehreren Fackeln, die man rundherum aufgepflanzt hatte.
Das Gesicht der Meerjungfrau war wie ihr makelloser Körper aus dunklem Holz. Pupillenlose Augen blickten über die Köpfe der Menschen hinweg, majestätisch, trotz der bemitleidenswerten Verfassung, in der sich der Rest ihres Schiffes befand. Ihre Züge waren starr wie Stein. Nur der flackernde Flammenschein schuf eine Illusion von Leben, wo es eigentlich keines geben konnte.
Die Figur war doppelt mannshoch und stand nahezu aufrecht, weil das Heck der Galeone im Hafenbecken versunken war. Nur ein Teil des Vorderdecks, der Bugspriet und die Galionsfigur selbst ragten aus dem nachtschwarzen Wasser. Die Takelage war längst verfault und abgefallen. Die hölzerne Statue befand sich etwa fünf Schritt vom Land entfernt, sodass sie mit bloßen Händen nicht zu erreichen war.
Ein Dutzend Männer und Frauen brüllten durcheinander, jeder kämpfte darum, seine Frage vorzubringen. Zwei Dirnen lagen sich buchstäblich in den Haaren, kratzten und schlugen aufeinander ein, weil jede behauptete, als Nächste an der Reihe zu sein.
»Geht das hier den ganzen Tag so?«, fragte Jolly einen alten Seebären, der die Szene mit gelassener Heiterkeit beobachtete.
»Den ganzen Tag? Ach was.« Er zog an einer kleinen Pfeife, die schon bessere Zeiten gesehen hatte.
»Das Orakel spricht nur während der Dämmerung, vom Sonnenuntergang bis zur Dunkelheit. Danach schweigt es wieder bis zum nächsten Abend.«
»Oh«, machte Jolly enttäuscht, denn die Sonne war längst in der See versunken, und am Himmel standen bereits die ersten Sterne.
»Zu spät!«, rief jemand aus der Menge. »Es ist zu spät für heute!«
»Das Gedicht fehlt noch«, brüllte ein anderer. »Wir wollen das Gedicht hören!«
Jolly wandte sich wieder an den alten Piraten. »Was für ein Gedicht?«
»Jeden Abend gibt das Orakel zum Abschluss ein Gedicht zum Besten. Das ist so Tradition.«
Jolly wunderte sich, dachte aber, dass dies womöglich unter Orakeln so
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