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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Neuankömmlingen ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
    Die Gefährten ließen das Schiff in der Obhut der Geister und gingen über den Landungssteg ans Ufer. Jolly blickte wehmütig hinab zu den Wellen, die unter ihnen gegen die Hafenmauer klatschten. Sie kämpfte gegen den Drang, hinaus aufs Wasser zu laufen und von Woge zu Woge zu springen; es war wie eine Sucht, die sie nach längeren Aufenthalten an Land oder an Bord eines Schiffes packte. Die Wellen schienen ihren Namen zu flüstern, der Wind zerrte an ihr. Selbst der Salzwasserduft kam ihr in solchen Augenblicken würzig und einladend vor. Aber sie widerstand der Versuchung. Sie durfte jetzt keine Aufmerksamkeit erregen.
    Als sie Munk fragte, ob er dasselbe fühlte, schüttelte er verwundert den Kopf. »Nein, überhaupt nicht«, sagte er.
    An Land trennten sie sich. Soledad und Buenaventure wollten sich in den Tavernen nach Hinweisen auf den Geisterhändler umhören. Zwar schien es nahezu unmöglich, dass er die Insel vor ihnen erreicht hatte, doch völlig auszuschließen war es nicht - immerhin hatten sie einen Tag durch das Entladen der Schweine verloren.
    Jolly, Munk, Griffin und Walker suchten derweil den alten Flaggennäher auf, von dem der Händler gesprochen hatte. Silverhand war auf Tortuga wohl bekannt, wurde doch in der ganzen Karibik kaum eine Freibeuterflagge gehisst, die nicht aus seiner Näherei stammte. Den berühmten Totenschädel schmückte er hier auf Wunsch nicht nur mit gekreuzten Knochen, sondern auch mit Säbeln, Pistolen, sogar Bierkrügen; ein beliebtes Motiv waren auch Gerippe, manche mit Säbeln bewaffnet, andere mit einem Weinkelch in der Hand.
    »Willkommen«, begrüßte Silverhand sie und schüttelte Walker herzlich die Hand. Jolly und die beiden Jungen begutachtete er mit gelindem Argwohn, obgleich ihn Munks staunende Begeisterung für die vielen Flaggen an den Wänden rasch versöhnte. »Schau dich nur um, Junge«, sagte er mit einer Stimme, die klang wie die Scharniere einer eingerosteten Schatztruhe. »Von jeder Flagge fertige ich zwei Exemplare an, eine für den werten Kunden, die andere für meine Sammlung. Jeder verlauste Dreckskerl, der diese Gewässer unsicher gemacht und sich einen Jolly Roger hat nähen lassen, ist in diesen Räumen verewigt - auch all jene, die von den Spaniern und Franzosen aufgeknüpft wurden. Manche Flaggen sind am Mast ihrer Schiffe auf immer in der Tiefe versunken, andere mitsamt der Mannschaft verbrannt. Aber in Silverhands Werkstatt, da leben sie weiter und erinnern an ihre Kapitäne . und an das Gold, das sie dagelassen haben.«
    Er stieß ein keckerndes Lachen aus. Jolly fiel auf, dass seine Hände ebenso knöchrig waren wie die der Gerippe auf seinen Flaggen. Am auffälligsten am alten Silverhand waren jedoch seine Narben. Jolly war schon vielen Männern begegnet, die ihre Erinnerungen an so manche Schlacht stolz zur Schau trugen. Silverhands Narben allerdings stammten nicht von Säbelhieben oder Pistolenkugeln. Auf dem Weg durch die schmalen Gassen hatte Walker ihnen erzählt, was dem Alten zugestoßen war: Nachdem er viele Jahre zur See gefahren war, als Matrose und Maat, sogar als Koch, war er schließlich auf dem Kahn eines besonders üblen und heruntergekommenen Freibeuters gelandet. Der hatte den schmächtigen Seemann aufgrund eines längst vergessenen Vergehens kielholen lassen - eine der schrecklichsten Strafen, die an Bord eines Schiffes verhängt werden konnten. Dabei wurde das Opfer an Stricken unter dem Kiel des Schiffes hindurchgezogen. Wer nicht ertrank, blieb ein Leben lang gezeichnet: Je nach Zustand des Schiffes fügte das raue Holz dem armen Teufel die schrecklichsten Wunden zu. Der Kahn, auf dem Silverhand angeheuert hatte, war in erbärmlicher Verfassung gewesen, der Rumpf dick mit Muscheln besetzt. Die scharfen Kanten und Spitzen hatten Silverhands Haut in Fetzen geschnitten, bis sie ihm wie ein Flickenkostüm von den Knochen hing.
    Heute sah sein Körper aus, als hätten alle Piraten der Karibischen See an ihm ihre Klingen gewetzt. Kreuz und quer verliefen die wulstigen Striemen, der Mund saß schief im Gesicht, ein Auge fehlte. Allein seine Finger waren damals heil geblieben, sodass er nach seiner Genesung einen kargen Lohn in der Werkstatt eines Flaggenmachers verdienen konnte. Bald hatte er das Geschäft übernommen, und nun versorgte er bereits seit über zwanzig Jahren die Korsarenschiffe der Karibik mit jenen Symbolen, die alle aufrechten Menschen das Fürchten

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