Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
Stufen gebaut, damit die Füße nicht im Schlick versanken.
Auf der Hügelkuppe stand eine Tür.
Sie war aus massiven Eichenbohlen, beschlagen mit Metall, das im Kerzenschein schimmerte. Es hätte in der feuchten, salzhaltigen Luft eigentlich rosten müssen, aber Ebenezer schien es regelmäßig zu polieren, so sehr blitzten die Beschläge. Die Tür stand in einem Rahmen, der mithilfe schräger Stützbalken auf der Hügelspitze verankert war. Griffin vermutete, dass weitere Befestigungen tief ins Innere des Schutthaufens führten, damit der Rahmen auch dann stehen blieb, wenn der Wal sich beim Ab- oder Auftauchen schräg legte.
Sie näherten sich der Tür von der Seite, und so sah Griffin, dass sie nirgendwo hinführte. Wenn man hindurchging, kam man zwar auf der anderen Seite wieder heraus, stand aber noch immer auf dem Hügel. Allmählich zweifelte er immer mehr am Geisteszustand seines wunderlichen Gastgebers.
Ebenezer erreichte die Tür und wartete, bis Griffin zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann drehte er den schweren Knauf und stieß die Tür auf. Flackernder Feuerschein fiel ihnen entgegen. Auf einmal hing der Geruch von gebratenem Fisch in der Luft.
Hinter der Tür lag ein Raum. Nicht die andere Seite des scheußlichen Trümmer- und Knochenhügels, sondern ein wahrhaftiges Zimmer. Mit holzverkleideten Wänden, einem offenen Kaminfeuer und heimelig schimmerndem Dielenboden. Und an der gegenüberliegenden Wand befand sich etwas, das ein Tresen sein mochte.
»Willkommen in Ebenezers Schwimmender Schänke«, verkündete der Mönch voller Stolz.
Griffin blinzelte. Dann trat er außen um die Tür herum. Auch von der anderen Seite war sie geöffnet, und als er durch den Rahmen blickte, sah er Ebenezer dort stehen und lächeln.
»Es funktioniert nur von einer Seite«, sagte der Mönch.
Griffin kehrte zurück zum Ausgangspunkt seiner Runde und blickte erneut in das Zimmer hinter der Tür.
»Hereinspaziert«, sagte Ebenezer und trat ein.
Griffin schabte mit Gabel und Löffel die letzten Reste vom Teller. Er hatte gerade seine zweite Portion vertilgt.
»Das war gut«, sagte er und leckte sich die Lippen.
»Gelernt ist gelernt.«
»Ich denke, Sie waren Mönch?«
»Der liebe Gott allein macht nicht satt. Auch Mönche müssen essen. Und jemand muss für sie kochen.«
Griffin warf einen bedauernden Blick auf den Teller, doch der war leer. »Dann waren Sie in der Missionsstation also der Koch?«
»Koch, Wissenschaftler, Illustrator. Man lernt so allerhand, wenn man plötzlich in die Wildnis verschlagen wird.«
»Und Sie wollten niemals dorthin zurück?«
»Anfangs schon. Aber dann sagte ich mir, dass es ein Zeichen des Herrn war, mich an diesem Ort überleben zu lassen. Schließlich bin ich nicht der erste Glaubensbruder, der diesem Untier begegnet ist.«
»Nicht?«
»Schon das Alte Testament erzählt davon. Da gab es einen Mann namens Jona, der von Gott eine höchst unangenehme Aufgabe bekam. Jona aber entschied sich, lieber davonzulaufen, und floh mit einem Schiff aufs Meer. Gott jedoch verfolgte ihn mit Stürmen und Gewittern. Als den Seeleuten klar wurde, dass Jona die Schuld an den Unwettern trug, warfen sie ihn kurzerhand über Bord. Doch bevor er ertrinken konnte, wurde Jona von einem Riesenfisch verschluckt, der ihn drei Tage und drei Nächte später an einer Küste sicher wieder ausspuckte.«
»Und Sie denken, das war dieser Wal?«
»Schon möglich. Es gibt noch mehr Geschichten über ihn. Hast du je von den irischen Mönchen gehört , die in alten Zeiten die See bereist haben? Der bekannteste von ihnen war der Mönch Brendan, den es auf eine siebenjährige Suche nach dem Land der Heiligen verschlug. Seine Geschichte wurde schon damals niedergeschrieben, und zwar unter dem Titel Navigatio Sancti Brendani Abbatis. Jedenfalls ist dieser Brendan im sechsten Jahrhundert nach Christus einem gewaltigen Fisch begegnet, größer als eine Insel, und er hat ihm den Namen Jasconius gegeben. Brendan und die anderen Mönche haben auf seinem Rücken sogar eine heilige Messe gefeiert, heißt es.«
Ebenezer kratzte sich am Kopf und lächelte ein wenig verlegen. »Fest steht, dass es andere wie uns gab. Und in gewisser Weise habe ich mich an meine Lage gewöhnt. Dieser Wal ist sogar das reinste Schlaraffenland. Du kannst dir nicht vorstellen, was er alles verschluckt. Vor allem während wir uns in der Nähe der Handelsrouten aufhalten. Tag für Tag gehen ganze Ladungen über Bord, Schiffe sinken und so weiter.
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