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Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Titel: Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Seiten.
    Nur die Menschen oberhalb des Walls wurden nahezu vollständig verschont: zahlreiche verwundete Gardisten und Bürger der Seesternstadt, aber auch solche, die gerade noch rechtzeitig bergauf geflohen waren, als das Wasser näher kam.
    Niemand hat je erfahren, wie viele Menschen an diesem Tag ums Leben kamen. In der Seesternstadt wurden später Zählungen vorgenommen, aber es blieb ungewiss, wie viele Piraten und Kannibalen den Tod gefunden hatten.
    Tyrones Flotte war auf einen Schlag vernichtet worden.
    Als die Flutwelle weiterraste, den Kleinen Antillen und schließlich dem Festland entgegen, wo sie langsam an Gewalt verlor und verebbte, saßen Soledad und Walker eng aneinander gepresst im Schlafzimmer des Hauses, in das Buenaventure den Captain gebracht hatte.
    Sie kauerten in einer Ecke, sprachen nicht, hielten die Augen geschlossen, horchten auf den Atem des anderen und den allmählich leiser werdenden Lärm im Freien.
    Irgendwann lösten sie sich voneinander, und Soledad half Walker ans Fenster.
    »Ich gehe raus und suche ihn«, presste die Prinzessin tonlos hervor. »Ich finde ihn. Irgendwo muss er sein.«
    »Ich komme mit«, sagte Walker.
    »Nein!«
    »Er ist mein Freund.«
    »Ich finde ihn für dich«, sagte sie sanft. »Du bist zu stark verletzt, um rumzulaufen.«
    »Mein rechter Arm ist in Ordnung. Ich kann fechten und schießen und -«
    Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Mit dieser Wunde in deiner Seite? Lass mich erst nachschauen, wie es draußen wirklich aussieht. Dann komme ich dich holen.«
    Sie sprang auf und trat rasch zwei Schritte zurück, damit er sie nicht aufhalten konnte. Es tat weh, mit anzusehen, wie er sich unter Schmerzen hochstemmte, versuchte ihr zu folgen, dann aber mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgeben musste.
    »Bitte«, sagte sie, »bleib hier. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«
    Ihre Blicke kreuzten sich abermals. Er gab auf und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. »Er ist bestimmt noch irgendwo da draußen.«
    Sie schenkte ihm zum Abschied ein aufmunterndes Lächeln, dann rannte sie die Stufen hinunter vors Haus. Durch die Gassen flossen immer noch Sturzbäche, und die ganze Stadt schaukelte wie eine entladene Galeone bei starkem Seegang. Soledad war nicht sicher, was die Flutwelle verursacht hatte, aber ihr kamen immer mehr Zweifel, ob es sich dabei um eine Waffe des Mahlstroms gehandelt hatte. Tyrones Männer hatten kurz vor dem Sieg gestanden. Warum hätte der Mahlstrom ihren Tod in Kauf nehmen sollen?
    Weil ihm Menschenleben nichts bedeuten, dachte sie eisig. Und weil ihm der Angriff nicht schnell genug ging.
    Aber was hatte der Mahlstrom gewonnen? Aelenium war nicht untergegangen, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach der Ankerkette zu verdanken hatten. Und derjenigen, die sie beschützt hatte. Soledad erinnerte sich an ihre Begegnung in der Unterstadt, an die funkelnden Augen der Seeschlange, doch jetzt überkam sie bei diesem Gedanken nur noch Dankbarkeit.
    Auf dem Platz befanden sich die meisten Verwundeten noch dort, wo sie schon vor der Flut gelegen hatten. Einige waren durcheinander geworfen, ein paar wohl auch fortgespült worden - Soledad war nicht sicher. Die ersten Helfer wagten sich allmählich aus den oberen Gassen herab, viele mit verstörten Gesichtern und tappenden, unsicheren Schritten. Fast alle blickten unablässig nach Norden, wo der Himmel sich jetzt blau und strahlend darbot. Falls es eine zweite Welle geben würde, zeigten sich keine Anzeichen dafür.
    Soledad eilte an den verwirrten, verletzten Männern auf dem Platz vorüber. Bald erreichte sie die drei Gassenmündungen, an denen sich vormals der Wall befunden hatte. Einige Trümmer lagen dort. Der Wall selbst jedoch war nahezu vollständig verschwunden.
    Sie blickte durch die mittlere Mündung nach unten, eine Gasse hinab, die schon nach ein paar Dutzend Schritten keine mehr war. Die Flutwelle hatte im mittleren Teil Aeleniums einen Großteil der Gebäude zerstört, hatte Wände eingerissen, Dächer abgedeckt und nur noch Ruinen stehen lassen. Aus allen Öffnungen lief Wasser und rann in verästelten Rinnsalen in die Tiefe.
    Noch schlimmer aber war es weiter unten.
    Die Viertel im unteren Drittel Aeleniums, bis hinab ans Wasser, waren wie fortgewischt. Wo eben noch hunderte Häuser gestanden hatten, war jetzt nur noch Leere. Geblieben waren glatte, weiße Hänge, die aussahen, als wären sie mit geborstenen Eisschollen bedeckt - den Überbleibseln dessen, was sich

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