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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Schweden, das unlängst noch mit einer profunden Rezession zu kämpfen hatte, ist weit entfernt von dem historischen Höhepunkt, als König Gustav Adolf den deutschen Protestanten als rettender »Löwe aus Mitternacht« zu Hilfe kam. Wie wenig die nordische Tugendhaftigkeit den Zufällen der Börsenspekulation und des Kasino-Kapitalismus gewachsen ist, erwies sich noch unlängst am Beispiel Islands, das als einziges Mitglied der Europäischen Union vorübergehend in den Staatsbankrott abstürzte.
    Eine Zarin aus der Uckermark
    Der Blick auf Frankreich stimmt keineswegs euphorisch. Aber es gibt wohl eine kontinentale Gesetzmäßigkeit. So hat auch der »Bling-Bling«-Präsident Nicolas Sarkozy, dem manche Franzosen schon wieder nachtrauern, nach einer Phase der Entfremdung in allen entscheidenden Fragen zur Übereinstimmung mit Angela Merkel gefunden. Es kam sogar der Verdacht auf, in diesem Zweigespann »Merkozy« gebe die Kanzlerin den Ton an. Die unvermeidliche Ausrichtung auf Berlin hat übrigens beim Durchschnittsfranzosen weder Komplexe noch Animosität erzeugt. Insgeheim haben sich manche Gallier sogar gewünscht, von einer vergleichbaren Politikerin regiert zu werden. Aber schon finden sich deutsche Skeptiker und angebliche Frankreichkenner, die von einer schmerzlich empfundenen Demütigung der »grande nation« – ein Ausdruck, der übrigens in Frankreich nie benutzt wird – zu berichten wissen und von einem wachsenden Groll auf die allzu dynamischen Deutschen.
    Was man von dem neu gewählten sozialistischen Präsidenten François Hollande zu erwarten hat, wissen die Franzosen selbst nicht. Der so unscheinbar wirkende Mann, der ein ganz »normaler« Staatschef sein will, hat die Öffentlichkeit bisher – in dieser Beziehung seinem Vorgänger nicht ganz unähnlich – mit seinen amourösen Eskapaden beschäftigt. Aber die Deutschen haben neuerdings keinerlei Grund mehr, auf die Einflußnahme einer »maîtresse en titre«, wie es am Hof von Versailles hieß, skandalisiert oder amüsiert herabzublicken.
    Zur Überraschung seiner sozialistischen Gefolgschaft pflegt Hollande bei seinen öffentlichen Auftritten sich häufig auf Charles de Gaulle zu berufen. Ganz ohne Zweifel steht die Fünfte Republik immer noch im Schatten dieses ungewöhnlichen Mannes, der von den einen als eine Art Don Quijote belächelt, von den anderen jedoch als gesalbter Monarch von Gottes Gnaden verehrt wurde. Selbst Mitterrand, der den ­General des »permanenten Staatsstreichs« beschuldigte, schlüpfte in die von de Gaulle entworfene Verfassung, als sei sie für ihn maßgeschneidert. Die unnahbare Erscheinung dieses herrischen Mannes, der in der Stunde der schmählichen Niederlage von 1940 mit einem Häuflein Getreuer an der Zukunft Frankreichs nicht verzweifelte, läßt alle Nachfolger im Élysée-Palast als Epigonen erscheinen.
    Beim Lesen seiner »Mémoires d’espoir« kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieser literarisch hochbegabte Chronist sich bewußt war, daß er seiner Nation zu einem letzten glorreichen Höhepunkt verholfen hatte. Nach seiner Abdankung im Jahr 1969, so berichtet André Malraux aus dem Landsitz von Colombey-les-Deux-Églises – draußen versank die Landschaft im »merowingischen Schnee« –, soll der General mit einem Anflug von Resignation bemerkt haben, daß die Franzosen sich wohl damit abfinden müßten, wenn die Geschichte ihnen die Ehe mit Deutschland auferlegt. Dieser Visionär hatte – zur Entrüstung seiner Kommandeure, die sich darauf beriefen, den Krieg in Nordafrika militärisch gewonnen zu haben – Algerien in die Unabhängigkeit entlassen und sich vom französischen Kolonialreich verabschiedet.
    Als er 1966 zum Staatsbesuch in Moskau eintraf, verärgerte er das dortige Politbüro, indem er nicht etwa die Sowjetunion hochleben ließ, sondern zur Verblüffung auch seines französischen Gefolges den prophetischen Ruf ausbrachte: »Vive la Russie«. In Leningrad mahnte er die Einigung Europas an, dem er den geographischen Raum »de l’Atlantique à l’Oural« zuwies. Sein Verhältnis zu Amerika war stets spannungsgeladen, aber auf dem Höhepunkt der Kubakrise ließ er John F. Kennedy wissen: »Wenn es zum Krieg kommt, dann stehen

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