Die Welt aus den Fugen
sich den westlichen Vorstellungen von Demokratie und Meinungsfreiheit anpassen, mit der Tatsache, daà zum gleichen Zeitpunkt die repressivsten Staaten dieser Region mit Waffen überschüttet werden â Hunderte Leo- II-Panzer für Saudi-Arabien, 200 für den GröÃenwahn des winzigen Emirats Qatar? Wo bleibt die offiziell betonte Moral, ja der elementare menschliche Anstand, wenn man die Auflehnung der zu siebzig Prozent schiitischen Bevölkerung der Golfinsel Bahrain gegen die sunnitische Tyrannei der Khalifa-Dynastie ignoriert?
Der Preis der Heuchelei
Ich neige nicht zu tugendhafter Entrüstung, und falls es die von Angela Merkel beschworene »deutsche Staatsräson« verlangt, würde ich sogar unvermeidliche VerstöÃe gegen das ohnehin diffuse Völkerrecht in Kauf nehmen. In meinem langen Leben habe ich so viele Greuel gesehen, daà mich die Seelenzustände gewisser Bundeswehrsoldaten auf einem doch relativ marginalen Kriegsschauplatz wie Afghanistan erschüttern. Aber was mich anwidert, ist eine Form von Heuchelei und gezielter Irreführung, die zur Leitlinie westlicher AuÃenpolitik und strategischer Entfaltung zu werden droht. Was soll man von dem neu erfundenen Konzept der »responsibility to protect« halten â von der Verantwortung, Massenmorde und Genozide zu verhindern â, wenn die Mittel für eine solche rettende Intervention gar nicht vorhanden sind und wenn etwa der Horror, der zur Zeit den östlichen Kongo heimsucht, tunlichst verschwiegen wird?
So liefert die Bundesrepublik ihre perfektionierten Waffensysteme an ein saudisches System, dessen HaÃprediger darauf aus sind, deutsche Konvertiten zum wahhabitischen Islam zu bekehren und durch religiöses »brain-washing« zu Terroristen zu erziehen. Als Gegengabe für ihre Waffenlieferungen erhielten die Deutschen â mit saudischen Geldern finanziert â 300 000 Exemplare des Heiligen Koran. Keiner der bei uns predigenden Imame hat bisher seine Stimme erhoben, um gegen diese wahllose Massenverteilung des heiligsten Buches, das somit der Entweihung und Besudelung ausgesetzt ist, zu protestieren. Mir sind gelegentlich von hohen »Ulama« in Bagdad oder Kairo Exemplare der Offenbarung Mohammeds als Geste des Vertrauens und der Hochachtung überreicht worden. Das geschah in der Erwartung, daà ich das »ungeschaffene Wort Gottes« mit dem gleichen Respekt behandeln würde wie die Gläubigen. Aber wer garantiert diesen Respekt bei der unkontrollierten Werbeverteilung an zahllose Unbekannte?
Welches Urteil würde wohl der gelehrte Qadi Ibn Khaldun über das saudische Herrscherhaus fällen? Er gewährte den Dynastien seiner Epoche, die â ähnlich wie später die Kamelreiter Ibn Sauds â meist aus dem religiösen Eifer von Beduinenstämmen hervorgegangen waren und die Herrschaft über die Städte an sich rissen, eine durchschnittliche Ãberlebensdauer von vier Generationen. Dann stelle sich allmählich der Untergang ein als Folge der »Verderbtheit der Sitten, des Strebens nach Vergnügungen und Luxus, der Völlerei in Speisen und Trank«. Vor allem warnte der Qadi vor den sexuellen Ausschweifungen, den perversen Entartungen des Geschlechtsverkehrs. »Wenn wir einen Staat zerstören wollen«, so zitiert er den Koran, »dann lassen wir seine Einwohner in ihrer Sünde und ihrem Luxus verkommen, so daà unsere Strafe zu Recht vollstreckt wird, und wir werden diesen Staat vernichten.«
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»Wie hältst du es mit der Religion?«, heiÃt es in Goethes »Faust«. »Wie hältst du es mit Amerika?«, könnte heute die Frage lauten, die gelegentlich mit quasi religiöser Eindringlichkeit gestellt wird. Ein groÃer deutscher Verlag hat das Bekenntnis zu den USA zur obligatorischen Richtlinie für seine Mitarbeiter gemacht. Nur ein Narr kann Anti-Amerikaner sein, hat doch fast jeder von uns eine verwandtschaftliche Beziehung zur Neuen Welt. Wer hat sich nicht begeistert für amerikanische Literatur, für amerikanische Musik und für all jene Aspekte des »American way of life«, die Bestandteil unseres Alltags geworden sind? Noch die jüngste Landung von »Curiosity« auf dem Planeten Mars hat uns gezeigt, wie weit uns die amerikanische Wissenschaft überlegen ist.
Aber ein Narr ist auch, wer in allen Fragen der AuÃenpolitik und der Strategie den
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