Die Welt aus den Fugen
russisch-orthodoxen Unterdrücker, aber auch auf den Eroberungsfeldzug der polnischen FlüÂgelreiter im 17. Jahrhundert, die damals Moskau eroberten, den Kreml besetzt hielten und einen zum römischen Glauben bekehrten Pseudozaren einsetzten. Doch dieser Vorgang von wahrhaft historischer Bedeutung wurde kaum erwähnt. Im übrigen existierte auch im deutschen Recht ein Passus, der für »die Störung einer religiösen Stätte« eine Bestrafung von bis zu drei Jahren Gefängnis vorsah.
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In ihrem Bemühen, auch bei den eigenen Wählern für die Rettung des Euro Stimmung zu machen, hat die Christlich Demokratische Union Deutschlands auf das Prestige Helmut Kohls zurückgegriffen. Der von der eigenen Partei geschmäh te und verratene »Kanzler der deutschen Einheit« hatte, wie eine zeitgenössische Barbarossagestalt in seinem Kyffhäuser, in seinem Bungalow von Oggersheim verharren müssen. Nun wurde ihm Genugtuung zuteil, und seine ehemaligen Gefähr ten stellten fest, welche Anziehungskraft dieser zu Recht verbitterte Mann vor allem auch bei seinen jungen Landsleuten genoÃ. Es schien, als habe Deutschland wieder einmal unter der »kaiserlosen, der schrecklichen Zeit« gelitten. Die alten Männer der »Rheinischen Republik« sind in einer Epoche, die dem hemmungslosen Jugendkult und einer kommerzialisierten SpaÃgesellschaft huldigt, in letzter Instanz zu den geachteten, glaubwürdigen Mahnern und Mentoren der neuen »Berliner Republik« geworden. Da überragte Richard von Weizsäcker, der den Mut und die Klugheit besaÃ, die Kapitulation der Wehrmacht im Jahr 1945 als eine Befreiung Deu tschlands zu bezeichnen, mit seiner geschliffenen Rhetorik das leere Gezänk im Reichstag. Als AuÃenminister hatte Hans-Dietrich Genscher mit seinem französischen Partner eine enge Beziehung gepflegt und war â wenn es galt â diversen Fehlleistungen der US-Diplomatie zumal in der islamischen Welt dezidiert entgegengetreten. Der deutschen Souveränität hatte er Substanz verliehen. Heute kann er nur mit Wehmut auf seine Nachfolger blicken.
Die ungeheure Popularität und Verehrung, die Helmut Schmidt genieÃt, der seinen 94. Geburtstag feiert, ist ein erstaunliches Phänomen, aber auch ein Beweis dafür, welche politische Mediokrität sich auf der Berliner Bühne breitgemacht hat. Als ich im Mai 2012 bei der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises an den ehemaligen US -Staatssekretär George P. Shultz zugegen war, überkam mich eine gewisse Melancholie beim Anblick des zum »rocher de bronze« ersta rrten Henry Kissinger, dem Deutschland eine unverdiente Gewogenheit seitens der damaligen US-Politik und Amerika die realistische Einschätzung der Volksrepublik China verdankt. Gleichzeitig verspürte ich beim Spaziergang zwischen Bran denburger Tor und der Statue Friedrichs des GroÃen â irrtüm lich nach Osten reitend, wo doch seine intellektuelle Neigung nach Frankreich ausgerichtet war â, daà in Deutschland seit der Wiedervereinigung ein profunder Geisteswandel stattgefunden hat. Die neuen Bundesländer, so gestand mir der lutherische Bischof Wolfgang Huber, seien gründlich entchristianisiert worden mit Ausnahme der winzigen katholischen Enklaven der ehemaligen DDR, die hart blieben wie der Fels Petri. Dennoch ist das wiedervereinigte Staatsgebilde irgendwie protestantischer geworden, was sich nicht nur dadurch äuÃert, daà die Kanzlerin Tochter Âeines evangelischen Pfarrers aus der Uckermark und der neue Bundespräsident ein Geistlicher der lutherischen Kirche ist.
Die Idee, daà Deutschland wieder preuÃisch geworden sei, entspricht leider nur einer oberflächlichen Wahrnehmung. Sie mag den gehobenen Kreisen der Berliner Gesellschaft vorschweben, trifft aber in keiner Weise auf die Stimmung der entvölkerten Weiten Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns zu, wo das kommunistische Regime die prä gende feudale Adelsgesellschaft durch den kumpelhaften Na chbarschaftskult von Proletariern zu ersetzen suchte. Angesichts der dominanten Stellung, die Berlin in der Europapolitik wieder zufällt, besteht allerdings die Gefahr, daà ein Rückfall in die GroÃmannssucht des Wilhelminismus stattfindet, die dieses Mal nicht militaristisch, sondern plutokratisch ausgerichtet wäre. Dieser Versuchung ist Helmut Schmidt in einem Interview mit Sandra Maischberger
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