Die Welt aus den Fugen
den germanischen Bundesbürgern unserer Tage â durchaus unterschiedlich je nach Region und Land â zu dieser prominenten Positionierung verhalfen. Die Wiedervereinigung ist den Deutschen aufgrund einer günstigen internationalen Ko njunktur gewissermaÃen in den Schoà gefallen. Ihren reibungslosen Ablauf verdanken sie jedoch der Kanzlerschaft Helmut Kohls, der mit Klugheit und MäÃigung, dank seiner Befähigung zu menschlichem Kontakt, mit den entscheidenden Akteuren in Moskau und Washington agierte. Der überstürzte Zusammenschluà hat sich in der ersten Phase aufgrund der erdrückenden finanziellen Belastung als Handicap erwiesen, aber allen Spöttern zum Trotz sind in der ehemaligen DDR blühende Landschaften entstanden, auch wenn das Reifen der Früchte auf sich warten läÃt.
Da ich nicht im Ruf stehe, einem überschwenglichen germanischen Nationalismus zu huldigen, erlaube ich mir, an dieser Stelle eine Aussage zu wiederholen, die ich im Dezember 1981, zu einem Zeitpunkt also, als die nationale Einheit den meisten deutschen Intellektuellen und auch Politikern als eine Fata Morgana, als eine Chimäre erschien, im Gespräch mit dem Schweizer Kollegen Frank A. Meyer gemacht habe. »Wir können doch nicht einfach davon ausgehen«, so argumentierte ich damals, »daà die Ordnung, die 1945 geschaffen wurde, permanent sein soll. Wir müssen, auch im Interesse der Russen, die mit dieser Situation gar nicht mehr fertig werden, zu einer neuen europäischen Friedensordnung vordringen, und auch die Frage der deutschen Wiedervereinigung wird irgendwann wieder auftauchen. Die einzigen, die sich dessen nicht bewuÃt sind, sind die Deutschen. Die Franzosen wissen es, die Russen wissen es. Aber isoliert genommen, wäre diese deutsche Wiedervereinigung ein zerstörerischer und gefährlicher Faktor. Sie gehört eingebettet in eine europäische Wiedervereinigung, auch mit den osteuropäischen Völkern, die auf Dauer nicht unter der russischen Kuratel zu halten sind. Was haben die Russen noch von Polen, was haben sie noch von der Tschechoslowakei? Da muà ein neues System gefunden werden. Die Sowjetunion wird in den kommenden Jahrzehnten konfrontiert werden mit ihrer asiatischen Grenzsituation gegenüber dem Islam und gegenüber China. Wir haben durchaus Solidarisierungsmöglichkeiten mit den Russen.«
Hätte ich diese ÃuÃerung vor der versammelten Redaktion der Zeitschrift »Stern« gemacht, deren Herausgeber ich kurz danach wurde, wäre ich auf Verwunderung und schallendes Gelächter gestoÃen.
Während ich diese Zeilen einem früheren Buch entnehme, entfesselt sich in Deutschland ein Sturm der Entrüstung über die Verurteilung der drei Russinnen von »Pussy Riot« zu zwei Jahren Zwangsarbeit. GewiÃ, ich hätte diesen wackeren jun gen Damen gewünscht, daà sie für ihren Schabernack mit einer Verwarnung davongekommen wären. Aber seltsamerweis e tobt sich in diesem Zusammenhang eine kollektive Schimpfkanonade gegen Wladimir Putin aus, und man nimmt Anstoà an dessen engen Beziehungen zum Patriarchen Kyrill der russisch-orthodoxen Kirche. Bezeichnenderweise fällt dieser antirussische Ausbruch, der die meisten Medien der westlichen Welt erfaÃt, mit der gezielten Empörung über die abweichende Haltung des Kreml im syrischen Bürgerkrieg zusammen. Die Frage stellt sich, ob das aufsässige Trio von »Pussy Riot« seinen Klamauk nicht sinnvollerweise vor dem Mausoleum Lenins am Roten Platz hätte aufführen sollen. Die Moskauer Erlöserkirche war seinerzeit durch Stalin gesprengt und durch ein Schwimmbad ersetzt worden. Mit dem Wiederaufbau dieses symbolträchtigen Gotteshauses sollte ja auch das Gedenken an jene zahllosen russischen Priester und Mönche wachgehalten werden, die der bolschewistischen Gottlosigkeit zum Opfer fielen.
Was nun den Patriarchen Kyrill betrifft, so wäre eine ganz andere Demarche dieses höchsten Klerikers des »Dritten Rom« gebührend zu erwähnen gewesen als sein Gnadengesuch für die drei exaltierten Mädchen, nämlich seine Reise nach Polen, seine spektakuläre Aussöhnung mit dem dortigen Erzbischof Józef Michalik und höchsten Würdenträger der römisch-katholischen Kirche. Der geschichtliche Rückblick verweist uns auf den heldenhaften Widerstand der polnischen Katholiken gegen ihre
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