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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Belastbarkeit durch permanente Reisen und öffentliche Auftritte, die selbst ein robuster Mann schwer aufbrächte.
    Was ihr anfangs fehlte, war das Gespür für die profunde Unterschiedlichkeit exotischer Kulturen, für die unvermeidliche Folge der daraus resultierenden Regionalkonflikte. Aber das hat sich spätestens nach ihrer intensiven Kontaktaufnahme zu China geändert. Was Helmut Schmidt sowohl an Angela Merkel als auch an Bundespräsident Joachim Gauck bemängelt, ist das geringe Gespür für die gemeinsame europäische Identität, ein Manko, das bei beiden auf die provinzielle Enge des Honecker-Staates zurückzuführen sei. Dem rauhbeinigen Temperament des Texaners George W. Bush gab sie offenbar den Vorzug vor der Fremdheit des Kandidaten Barack Obama, dem das deutsche Publikum zujubelte, dem sie jedoch den Auftritt am Brandenburger Tor verweigerte.
    Im Hinblick auf Frankreich fehlte ihr offenbar jede Affinität. Im jüngsten Wahlkampf bevorzugte sie eindeutig den zum Deutschenfreund gewandelten Sarkozy gegenüber seinem sozialistischen Herausforderer Hollande, mit dem sie sich erst zaghaft zu jener »Bussi-Bussi«-Mode, zu jenen Wangenküßchen bereit fand, die zum obligatorischen Brauch einer indifferenten internationalen Gesellschaft gehören. Von der Mittelmeerunion, die Sarkozy mit der ihm eigenen Hektik vorgeschlagen hatte, hielten die Kanzlerin und ihre Umgebung überhaupt nichts. Das »Mare nostrum« der Römer stieß bei ihr vielleicht auf eine anerzogene Abneigung gegen alles Ultramontane. Aber spätestens der »Arabische Frühling« hat die Berliner Regierung zu einer Umorientierung ihrer geographischen Prioritäten veranlaßt, wobei allerdings das Auswärtige Amt von einer Fehleinschätzung in die andere taumelte.
    Dem Hedonismus, der krampfhaften Fröhlichkeit, dem sexuellen Exhibitionismus unserer Talmi-Gesellschaft könnte die Pfarrerstochter aus der Uckermark mit einem anderen Nietzsche-Zitat begegnen: »Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln.« Niemand wird es den Deutschen zum Vorwurf machen, daß sie im Zustand militärischer Ohnmacht und akuter auswärtiger Bedrohung auf den Schulterschluß mit der amerikanischen Supermacht angewiesen sind. Aber warum pflegen gewisse Dienststellen in Berlin eine an Feindseligkeit grenzende Distanzierung von China und Rußland? Warum nimmt man nicht die Chancen eines Dialogs mit der Islamischen Republik Iran wahr, die keineswegs dem Zerrbild der amerikanischen Desinformation entspricht? Warum steigert man sich in eine verbissene, hochbrisante Einseitigkeit im syrischen Bürgerkrieg?
    Vor allem kann ich kein Verständnis aufbringen für die ständige Verschärfung der Sanktionen gegen eine ganze Serie von Staaten, mit denen die Bundesrepublik in kooperativer Eintracht leben könnte. Noch nie habe ich in meiner langen Korrespondentenkarriere erlebt, daß ein Regime durch Sanktionen und Boykottmaßnahmen zu Fall gebracht wurde. Wenn die deutsche Regierung auf Weisung Washingtons ein Erdöl-Embargo gegen Iran verhängt, so schneidet sie sich ins eigene Fleisch, und die deutschen Autofahrer wundern sich über die aus dieser Importdrosselung resultierende Erhöhung der Benzinpreise.
    Das Beispiel des Irak, dem in der letzten Herrschaftsperiode Saddam Husseins zwischen 1991 und 2003 die Einfuhr von Chemikalien untersagt war, unter Hinweis auf den angeblichen »dual use«, auf die mögliche Verwendung dieser Produkte für die Herstellung von toxischen Waffen, enthüllt den zutiefst amoralischen, unmenschlichen Charakter solcher Blockaden. Es sind ja nicht die Diktatoren und ihre Umgebung, die die Einschränkungen zu spüren bekommen, sondern das einfache Volk. Das Importverbot chemischer Substanzen hat die Landwirtschaft Mesopotamiens der Düngemittel beraubt und eine Verseuchung des Wassers im Zweistromland zur Folge gehabt, die die Kinder- und Säuglingssterblichkeit auf tragische Weise vermehrte. Was bezwecken die NATO-Stäbe, wenn der iranischen Luftlinie die unentbehrlichen Ersatzteile verweigert werden? Erhofft man sich davon in Berlin, Paris und London, daß möglichst viele dieser Maschinen abstürzen und ihre zivilen Passagiere in den Tod reißen? Wie vertragen sich die deutschen Beteuerungen, man müsse die Regime von Teheran und Damaskus wirtschaftlich strangulieren, damit sie

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