Die Welt aus den Fugen
Eidgenossen, als seien sie Indianer, gegen die man die Kavallerie ausschicken müsse. Der mittlerweile abgelöste Parteivorsitzende der Sozialdemokraten, Franz Müntefering, bedauerte gar, daà es heute nicht mehr üblich sei, Soldaten in Marsch zu setzen, um von den Nachbarn Gefügigkeit zu erzwingen.
Die beiden hitzigen Streiter Germaniens sind bestraft worden. Die deutsche Sozialdemokratie hat eine so verheerende Schlappe erlitten, daà Steinbrück sämtliche politischen Ãmter niederlegte. Müntefering wurde von der Parteispitze verdrängt und in eine bescheidene parlamentarische Tätigkeit verbannt.
Aber bei diesem Votum der Deutschen ging es natürlich um mehr als um die Befindlichkeit des empörten Schweizer Gemüts. Die Bundesrepublik Deutschland â einst der solideste Pfeiler der europäischen Einigung â ist unberechenbar geworden, seit die GroÃe Koalition zwischen CDU und SPD zerbrach und Angela Merkel zur Koalition mit den Liberalen der FDP gezwungen wird. Deren Vorsitzender Guido Westerwelle, der als Vizekanzler und AuÃenminister fungieren soll, galt noch vor kurzem als Leichtgewicht. Ihm wird nicht nur von der Sozialdemokratie eine zu enge Bindung an die Wirtschaftskreise nachgesagt.
Auch die CDU, die früher einmal eine starke Gefolgschaft bei der Arbeiterschaft und den kleinen Leuten besaÃ, muà sich nun hüten, noch stärker rechts abzugleiten und jene Position der »Mitte« einzubüÃen, auf die Angela Merkel sie eingeschworen hatte. Daà die bayerische Schwesterpartei CSU erhebliche Stimmenverluste einstecken muÃte, schürt in München Unmut. Angela Merkel ist als Bundeskanzlerin neu bestätigt worden, aber als strahlende Siegerin präsentiert sie sich nicht.
Innerhalb hoher Parteigremien der SPD findet inzwischen ein grausames Gemetzel statt. Ob der bisherige Umweltminister Sigmar Gabriel die ehrwürdige Arbeiterpartei als Oppositionsführer neu beleben kann, ist keineswegs sicher. Die Linke, vor kurzem noch als schlecht getarnte Kommunisten angeprangert, hat sich eine Statur entwickelt, die für die Sozialdemokraten eine existentielle Bedrohung darstellt. Es ist wirklich Zeit, daà die Politiker der Bundesrepublik West der so glühend gefeierten Wiedervereinigung Deutschlands Rechnung tragen und zur Kenntnis nehmen, daà diese Partei nicht einfach ausgegrenzt und ignoriert werden kann.
Wenn Die Linke neuerdings auch im Westen Fuà fassen konnte, so war das im wesentlichen Oskar Lafontaine zu verdanken. Er hatte sein Amt als Vorsitzender der Sozialdemokratie zur Verfügung gestellt, als der damalige Bundeskanzler Schröder eine Reformpolitik einleitete, die ihm den Ruf einbrachte, Kanzler der Bosse zu sein. Der Bruch Lafontaines mit seiner Partei wurde von empörten Genossen als Flucht vor der Verantwortung und als Verrat geschmäht. Statt dessen hätte man sich auch von anderen Politikern wünschen können, daà sie bei Verletzung ihrer Ãberzeugungen ihren Rücktritt einreichen würden.
Die GroÃe Koalition von Christdemokraten und Sozialdemokraten war nicht so schlecht wie ihr Ruf. Hatte sie doch auf die Finanzkrise und die drohende Rezession mit viel taktischem Geschick und beachtlichem Sachverstand reagiert. Was soll man hingegen von der Regierung Schröder-Fischer halten, die durch Merkel abgelöst wurde und die mit ihrer Agenda 2010 alle sozialen Verpflichtungen über Bord warf, für die sie sich feierlich verpflichtet hatte? Man kann sich wundern über jenen angeblich so fortschrittlichen AuÃenminister Joschka Fischer, der sich als Berater der Automobilfirma BMW in den Dienst des Kapitalismus stellt.
Noch herrscht in Deutschland Gelassenheit angesichts der Wirtschaftskrise, deren Folgen von der Masse der Bevölkerung kaum wahrgenommen wird. Wie in einem Kasino blickt die Ãffentlichkeit auf die Tricks und Intrigen, die zwangsläufig das neue Kabinett Merkel-Westerwelle heimsuchen werden. Bei den Sozialdemokraten, die sich nach ihrem Führungswechsel darauf vorbereiten, alte Tabus zju brechen, zeichnet sich die Perspektive einer rot-roten Kombination ab. Sie könnte bis an den Rand der Verschmelzung mit Der Linken auswuchern, die man unlängst noch als Schmuddelkinder beschimpfte. Von AuÃenpolitik ist bezeichnenderweise im vergangenen Wahlkampf nicht im geringsten die Rede gewesen.
Rätselraten um die Bombe
Interview, 07. 10. 2009
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