Die Welt der Kelten
den Kelten gepflegt wurde, ist unwahrscheinlich. Im nördlichen Gallien kam sie jedenfalls um 100
vor Chr. außer Gebrauch. In der heiligen Kultstätte wurden noch in der gallo-römischen Zeit die Götter verehrt – allerdings
mit weniger gespenstischen Ritualen, die das Imperium Romanum tolerieren konnte.
Im benachbarten Gournay-sur-Aronde stand ein ähnliches Heiligtum, ebenfalls in der Nähe eines versumpften Flussufers. Dort
opferten die Bellovaker massenhaft Rinder, Schweine und Schafe, deren Kadaver und |184| Knochen in etlichen Gruben deponiert wurden. Auch sie lagerten und zerstückelten die Leichen feindlicher Krieger, deren Überreste
und Waffen sie als Trophäen innerhalb der Kultstätte aufstellten. Dazwischen war das Allerheiligste den Priestern vorbehalten,
während sich die Männer und Frauen der benachbarten Siedlung wahrscheinlich an besonderen Festtagen zum Opfermahl versammelten.
Der Verwesungsgeruch und die unmittelbare Nähe menschlicher Überreste dürften sie nicht gestört haben; offenbar verbanden
sie die Nähe des Todes nicht nur mit Unterweltsgöttern, sondern auch mit Gedanken an Fruchtbarkeit und Wiedergeburt.
Rekonstruktion des Heiligtums von Gournay-sur-Aronde aus dem 2. Jahrhundert vor Chr. Bei den Tieropfern bevorzugte man wie
bei Menschen bestimmte Skelettteile. Besonders Rinderschädeln schrieb man eine Unheil abwehrende Bedeutung zu und befestigte
sie deshalb am Porticus.
Zu welchen rätselhaften Ritualen der keltische Toten- und Opferkult jener Zeit führte, zeigt ein Beispiel aus den Ardennen.
Dort hatte ein gallisches Dorf in Acy-Romance sein
Nemeton
bei einem uralten Grabhügel errichtet, der aus der vorkeltischen Bronzezeit stammte. Die Menschen sahen in ihm im 2. Jahrhundert
vor Chr. vermutlich ein Denkmal der Vorfahren oder göttlicher Mächte.
Um ihre Gunst zu gewinnen, zwängte man die Leichen junger Männer derart in Holzkisten, dass der Einzelne zusammengekrümmt
darin saß und den Kopf zwischen den Beinen hatte. Auf diese Weise wurde er längere Zeit in einem trockenen Brunnenschacht
gelagert, bis sein Körper alle Flüssigkeit verloren hatte und die Kleider verrottet waren. Nach einer weiteren Austrocknungszeit
an einem luftigen Ort setzte man den Leichnam in seinem »Buddhasitz« endgültig bei. Einem anderen Mann fesselte man die Hände,
zwang ihn, sich niederzuknien, und tötete ihn mit einem Axthieb. |185| Sein Skelett wurde nach mehr als 2 000 Jahren in einer Vorratsgrube gefunden.
Derartige Funde scheinen die keltischen Opfermassaker zu bestätigen, die von antiken Geschichtsschreibern mehrmals geschildert
wurden. Dabei ist die unbestreitbare Tatsache, dass unter den Kelten Menschenopfer möglich waren, nur ein Teil der historischen
Wahrheit. Zahlreiche Missverständnisse und Klischees der Römer wurzelten in einem völlig andersartigen Umgang mit den Toten.
Ihre herausragende Behandlung, wie sie in den erwähnten Fällen beschrieben wurde, kann nämlich auch von besonderer Hochachtung
zeugen. Wo es üblich war, die meisten Leichen einer Siedlung zu verbrennen oder sie achtlos verwesen zu lassen, kam einer
langjährigen und arbeitsintensiven »Behandlung« eine Bedeutung zu, die wohl nur dem Stammesadel gebührte. Nur seine Angehörigen
hatten wahrscheinlich ein Recht auf das Ritual der Austrocknung. Doch ob feindlicher Krieger, unschuldiges Opfer oder angesehener
Aristokrat – der keltische Umgang mit den Toten ist dem Europäer des 21. Jahrhunderts genauso rätselhaft und abstoßend wie
dem Römer 2 000 Jahre früher. Und dennoch: Für etliche Stämme der Kelten stand hinter diesen Ritualen der adäquate Umgang
der Menschen mit den Göttern.
Überall im nordöstlichen Gallien endeten derartige Bräuche um das Jahr 100 vor Chr. – mutmaßlich wegen vordringender römischer
Einflüsse. Wo Menschenopfer gepflegt worden waren, trat jetzt die verstärkte Opferung von Haustieren an ihre Stelle. Dabei
konnten während einer Zeremonie bis zu 150 Schafe abgeschlachtet werden – auch ihrer bedurfte es anscheinend viele, um die
Götter zufrieden zu stellen.
Bei aller Ungewissheit über die genaue Bedeutung solcher Opfer gilt es als sicher, dass eine Priesterschicht notwendig war,
um die zahlreichen Rituale entsprechend den göttlichen Geboten auszuführen. Wer außer den Druiden hätte die Zeremonien veranstalten
können? Kein Schritt durfte falsch getan und kein Wort unnütz gesprochen werden, denn
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