Die Welt der Kelten
weil es aus den verschiedensten Völkern zusammengetrieben
wurde.
Deshalb endet die Rede mit einem eindringlichen Aufruf, hier und jetzt die Römer zu besiegen und aus ganz Britannien zu vertreiben
– und vielleicht ihrem selbstherrlichen Imperium ein Ende zu bereiten: »Es schrecke euch nicht der eitle Anblick und das Blitzen
von Gold und Silber, das weder schützt noch verwundet. In der feindlichen Schlachtreihe werden wir unsere Verstärkungen finden:
Erkennen werden die Britannier ihre eigene Sache, erinnern werden sich die Gallier ihrer früheren Freiheit, im Stich lassen
werden die Germanen sie … Hier ist ein Führer und ein Heer – dort Auflagen und Bergwerksfron und andere Sklavenplagen; ob
wir diese ewig tragen oder sofort ahnden, darüber wird auf diesem Feld entschieden! Zieht also nun in die Schlacht und gedenkt
eurer Ahnen und Nachfahren.«
Obwohl Calgacus’ Appell nicht die erwünschten Früchte trug und die Römer gemäß Tacitus das Treffen in den Highlands für sich
entschieden, blieb den besiegten Kaledoniern doch das vorausgesagte Los erspart. Die überlebenden Kämpfer zogen sich zu ihren
Stämmen zurück und verschwanden mit ihnen in der kalten Unwirtlichkeit des Nordens.
Die bewegende Ansprache des keltischen Häuptlings gilt heutzutage als eine ausdrückliche Anklage des römischen Eroberungsstrebens.
Aber man |228| lasse sich nicht täuschen – ohne Zweifel stammt der überlieferte Wortlaut dieser Rede nicht von Calgacus, sondern von Tacitus
selbst. Der gebildete Gelehrte und Politiker beherrschte die rhetorischen und literarischen Stilmittel seiner Zeit. Dazu gehörte
die fiktive Rede, derer man sich auch in einem historischen Werk bediente. Da der Römer sich zu einer gewissen Glaubwürdigkeit
verpflichtet fühlte, schrieb er das, was einem von der Unterwerfung bedrohten Barbaren an Gedanken zuzutrauen war. Tacitus
übte mitnichten grundsätzliche Kritik am römischen Herrschaftsanspruch – allenfalls an politischen Entscheidungen oder seiner
zeitgenössischen Gesellschaft. Was davon blieb, ist eine nicht unzeitgemäß wirkende Kritik am Imperialismus.
Der Römer fand mit seiner fiktiven Anklage eines Kelten fast zweitausend Jahre später eine Vielzahl von Nachfolgern. Im Zeitalter
des Kolonialismus wurde es seit dem 18. Jahrhundert geradezu modern, mit den einem Exoten unterstellten Worten Kritik an der
europäischen Gesellschaft zu üben – sei es hinter der Maske eines Indianers, Chinesen oder Südseeinsulaners. Mittlerweile
sind an deren Stelle oftmals die frühgeschichtlichen Kelten getreten.
Das Kelten-Spiel
Diese erleben seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Boom, der Züge einer Keltomanie angenommen
hat, einer Begeisterung, die an den Ossian-Kult erinnert und doch weit darüber hinaus geht. Überall in Europa finden Menschen
aller Gesellschaftsschichten Interesse an jenem Volk, das es als Vorfahren zu entdecken gilt. Dies wird insbesondere von den
Funden und Forschungsergebnissen der Archäologen gefördert, die immer wieder neue Seiten der mehr als 2 000 Jahre alten Kultur
ans Tageslicht bringen. In Frankreich, Deutschland und vielen anderen Ländern stieß man auf Gräber, Tempel und monumentale
Anlagen, die zu Recht als sensationell und rätselhaft bezeichnet werden. Man denke nur an die Funde von Hochdorf, Glauberg
und in Nordostfrankreich, die gleichsam die Spitze einer unterirdischen Keltenwelt zu bilden scheinen, denn Jahr für Jahr
kommen überraschende Entdeckungen hinzu.
Vieles davon wird in spektakulären Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert und findet nicht selten eine Heimstatt in
neu errichteten Museumsbauten. Zudem verbinden sich mit derartigen archäologischen Funden zunehmend regionale und wirtschaftliche
Interessen. Während sich die Franzosen seit jeher auf die Gallier als ihre Vorfahren berufen, beginnen viele Deutsche erst
damit, die Kelten als Teil ihrer Geschichte wahrzunehmen |229| . Diese tauchen hinter den Germanen und deren Großstämmen wie den Franken und Alamannen gewissermaßen aus dem historischen
Dunkel auf und wirken wegen der überwiegenden Schriftlosigkeit ihrer Kultur umso schwerer verständlich und damit reizvoller.
Außerdem erweisen sich immer mehr Regionen als Teil der untergegangenen keltischen Welt auf dem europäischen Festland. Neben
den Süden und Südwesten Deutschlands ist mittlerweile Hessen getreten, und sogar in
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