Die Welt der Kelten
bescheidenen Verhältnissen weit jenseits des Rheins im Herkynischen Wald und darüber
hinaus siedelten. Seit Caesars Zeit fasste man sie unter dem Namen der Germanen zusammen. Immer häufiger zogen ihre verwegenen
Kriegertrupps nach Westen und Süden, oft folgten ihnen ganze Stammesverbände mit Kind und Kegel. Genauso waren vor wenigen
Generationen die Kimbern und Teutonen aus Dänemark durch Gallien bis nach Italien gezogen, auf der Suche nach Beute und Land.
Erst nach mehr als einem Jahrzehnt der Unruhe gelang es dem römischen Feldherrn Marius in den Jahren 102 und 101 vor Chr.,
die Kriegerscharen in der Provence und bei Mailand entscheidend zu schlagen.
Ihnen folgten die Sueben unter ihrem König Ariovist, die den Auftrag der Sequaner annahmen und gegen die Haeduer zogen. Caesar
erblickte in ihren Scharen zu Recht das von den Kelten verschiedene Volk der Germanen. Allerdings stellte er diese Erkenntnis
stark vereinfacht dar, indem er zum Beispiel den Rhein zur Völkergrenze zwischen ihnen und den Galliern |75| machte. In Wahrheit waren die Sueben ein multiethnisches Kriegerbündnis, das aus vielen germanischen und keltischen Stämmen
bestand. In Gallien suchten sie Land zum Siedeln, um die angenehmere gallische Lebensweise anzunehmen. Das Leben des Ariovist
verdeutlicht, wie weit das Streben nach Assimilation ging: Er trug einen keltisch geprägten Namen und war mit einer Keltin
verheiratet.
Diviciacus war wahrscheinlich gleichgültig, ob sein Stamm Galliern oder Germanen unterlag; für ihn zählte jede Niederlage
als herber Machtverlust der Haeduer. Was hatten sie schon zu verlieren, wenn sie ihre römischen »Blutsbrüder« um Hilfe baten?
Die Keltenwelt war mit ihren zahlreichen Stämmen und den benachbarten Völkerschaften ohnehin nie ein statisches Gebilde mit
fest umrissenen Grenzen und Territorien gewesen. Immer wieder zogen germanische Stämme nach Gallien und ließen sich alsbald
keltisieren – etwa am Niederrhein und in den Ardennen. Auch innerhalb keltischer Gebiete kam es zu Wanderungen. So setzten
nordgallische Stämme nach Britannien über und nahmen dort Land in Besitz.
Ein Beispiel für einen wandernden Gallierstamm boten auch die Helvetier, deren Zug Caesar als Begründung der militärischen
Intervention im freien Gallien diente. Einst hatten sie ihre Siedlungen in Süddeutschland verlassen, den Hochrhein überquert
und sich das Land zwischen Rhein, Genfer See und Alpen angeeignet. Dieses Gebiet entsprach ungefähr der heutigen Schweiz,
die ihren Namen Helvetien nach diesen Kelten trägt. Doch in seiner neuen Heimat scheint sich der Stamm nicht wohl gefühlt
zu haben. Eingeengt zwischen Alpen, Römern und anderen gallischen Stämmen bot das Land wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Unter
vielen adligen Kriegern kam Unwille darüber auf, dass man hier nur eingeschränkt auf Kriegszüge und Kopfjagd gehen konnte.
Zum Sprecher dieser Unzufriedenen, die auswandern wollten, machte sich Orgetorix, der in der Stammesgesellschaft erheblichen
Einfluss besaß. Davon zeugten Tausende von Sklaven und ihm anderweitig Verpflichtete. Ob dieser helvetische Aristokrat die
Alleinherrschaft anstrebte – wie Caesar behauptet –, sei dahingestellt; jedenfalls unternahm er alles, um der Anführer der
abwandernden Helvetier zu werden, vergleichbar dem Sueben Ariovist. Darüber hinaus führte er Gespräche mit anderen Stämmen
und fand sowohl bei den Sequanern als auch bei den Haeduern Verbündete, die ihn unterstützten. Unter diesen befand sich pikanterweise
Dumnorix, der Bruder des haeduischen Druiden und Romfreundes Diviciacus.
Doch das Establishment des Stammes widersprach den ehrgeizigen Plänen des Orgetorix, weil es dessen Machtambitionen erkannte
und Kämpfe mit anderen Stämmen und den Römern fürchtete. Man nötigte ihn, sich den Stammesgesetzen zu unterwerfen: »Ihren
Bräuchen entsprechend zwangen sie Orgetorix, sich in Fesseln zu verantworten. Wurde er schuldig |76| gesprochen, musste er zur Strafe verbrannt werden.« Doch anscheinend wollte sich der Angeklagte keinem Urteil beugen. Er rief
seine gesamte Gefolgschaft einschließlich der Sklaven zusammen, und entzog sich mit ihrer Hilfe dem Prozess. Bei anschließenden
Unruhen und Kämpfen fand Orgetorix den Tod. Wie stark jedoch seine Anhänger waren, zeigte sich daran, dass sie das Vermächtnis
des Getöteten durchsetzten: Man hielt an den Auswanderungsplänen fest. Die Helvetier gaben
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