Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
den Erstbesten, den mir 20 Bekannte empfohlen hatten. Ein 911 er-Orthopäde mit Sportmedizin als Spezialgebiet. Das mit der Sportmedizin hätte mich eigentlich skeptisch machen sollen, aber da war es schon zu spät. Schon saß ich mit entblößtem Oberkörper vor ihm.
Das tue ich übrigens äußerst ungern, das mit dem Entblößen, insbesondere, wenn auch noch eine junge, hübsche Sprechstundenhilfe dabei ist. Die Anwesenheit einer hübschen jungen Dame löst bei mir oft eine fatale Kettenreaktion aus: Ich strecke die Brust raus, ziehe den Bauch ein und vergesse dabei das Atmen. Das wiederum macht es mir schwer, auf Fragen des Arztes zu antworten. Meistens breche ich dann einfach ohnmächtig zusammen. An diesem Tag nicht – es war keine Sprechstundenhilfe anwesend.
»Hm … Herr Doyle, das ist alles ein bisschen verhärtet bei Ihnen, viel tun Sie nicht für Ihren Rücken?«
»Ich sitze gerne.«
»Das ist nicht viel. Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Sport?«
»Gut, sehr gut sogar. Ich mag Fußball.«
»Und wie oft spielen sie?«
»Spielen? Nein, ich schaue zu.«
»Das ist nicht viel, Herr Doyle.«
»Manchmal gehe ich auch ins Stadion.«
»Auch das ist nicht besonders anstrengend.«
»Beim FC schon. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es ist weniger anstrengend, für den FC zu spielen, als ihm zuzugucken.«
Tatsächlich zauberte ich dem durchtrainierten Sportmediziner damit ein kleines, schales Grinsen ins harte Gesicht. Das ist überhaupt meine Methode, unangenehme Fragen nicht wirklich beantworten zu müssen. Ein kleiner Witz und selbst der strengste Orthopäde vergisst, mich zu ermahnen. Man zieht den Arzt quasi auf seine Seite. Plötzlich weiß er nicht mehr, warum der Patient da ist, und man verlässt die Praxis mit einem guten Gefühl.
Leider auch mit Nackenschmerzen.
Allerdings war dieser Sportmediziner ein beinahe humorfreier, hartnäckiger Fall.
»Herr Doyle, gibt es irgendeinen anderen Sport, den Sie betreiben?«
»Tennis gucke ich auch gerne.« Nun veränderte sich seine Tonlage. Gleichzeitig zogen sich seine Augenbrauen zusammen, und sein Blick wanderte zu meinem Bauch. Der Bauchblick irritierte mich. Es war so ein Blick wie: »Herr Doyle, Sie sind fett!«
Aber das sagte er nicht. Er sprach mit meinem Bauch und fragte:
»Wie oft in der Woche treiben Sie überhaupt irgendeinen Sport?«
»Nicht so oft«, antwortete mein Bauch.
»Was heißt: Nicht so oft?«
»Das heißt so ungefähr … nie.« Jetzt war es raus. Kein Witz der Welt schützte mich nun vor der medizinischen Hasstirade.
»Herr Doyle, es ist doch kein Wunder, dass es Ihnen so mies geht. Durch Ihren Bauch haben Sie eine schlechte Körperhaltung. Die Schultern gehen nach vorn, der Kopf geht auch nach vorn, und das belastet den Nacken und den gesamten Rücken, und das sind die Ursachen für Ihre Schmerzen!«
Ich wusste, dass er das sagen würde. Ich wusste es, bevor ich einen Fuß in seine Praxis gesetzt hatte. Und doch hatte ich irgendwie gehofft, dass es anders gekommen wäre, dass er so etwas sagt wie: »Ach, Herr Doyle, das ist alles gar nicht so schlimm. Sie können ruhig weiterfressen wie ein Schwein. Das hat mit Ihrem Rücken gar nichts zu tun. Sie haben bestimmt nur falsch gelegen. Eine kleine Spritze und weg ist der Schmerz. Guten Appetit!«
Aber auch das sagte er nicht, stattdessen dozierte er weiter:
»Sie brauchen Bewegung, viel Bewegung! Und ansonsten dran denken: Aufrecht gehen! Schultern zurück! Bauch einziehen! Brust raus!«
Also genau das, was ich gemacht hätte, wenn sich die Sprechstundenhilfe im Zimmer aufgehalten hätte, nur ohne Luftanhalten. Ich versuchte, es dem Arzt recht zu machen: Brust raus, Schultern zurück.
»So komme ich mir vor wie ein Zuhälter.«
»Aber« – der Sportmediziner grinste zufrieden – »wie ein Zuhälter ohne Rückenschmerzen.«
Okay, damit kann ich leben.
Gleitsichtterror
Eigentlich begann der körperliche Verfall mit meinen Augen. Bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr konnte ich mit meinen Augen gucken, wie man eben mit Augen guckt: Morgens öffnete ich sie, sah klar und deutlich den Pubertierenden vor mir, als er noch kein Pubertierender war, und hörte eine liebliche Kinderstimme sagen: »Papa, aufstehen! Frühstück machen!« Ich freute mich, ihn zu sehen, also richtig zu sehen, zu erkennen eben, und antwortete: »Weck Mama!«
Irgendwann, so um die 40 , passierte es dann. Wieder war es früher Morgen. Jemand zerrte an meiner Schulter und schrie: »Frühstück!«
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