Die Welt ohne uns
großen Panoramascheiben flogen, die unverzichtbaren Prunkstücke aller amerikanischen Nachkriegseigenheime.
»Fensterscheiben werden von Vögeln nicht als Hindernisse erkannt«, stellt Klem nüchtern fest. Große Vögel, kleine Vögel, alte und junge, männliche und weibliche, bei Tag oder bei Nacht – es spielte keine Rolle, wie Klem im Laufe zweier Jahrzehnte feststellte. Auch machten die Vögel keinen Unterschied zwischen Klarglas- und verspiegelten Scheiben. Das war fatal, angesichts des Exodus spiegelglasbewehrter Hochhäuser Ende des 20. Jahrhunderts aus den Stadtzentren in jene Randbezirke, die Zugvögeln noch als offene Felder und Wälder in Erinnerung waren. Selbst die Besucherzentren der Naturschutzparks, sagt Klem, seien häufig »buchstäblich mit Glas bedeckt, sodass diese Gebäude regelmäßig eben jene Vögel umbringen, deretwegen die Leute kommen«.
1990 schätzte Klem, dass sich jährlich hundert Millionen Vögel beim Flug in Fensterscheiben das Genick brächen. Heute nimmt er an, dass die zehnfache Zahl – eine Milliarde allein in den Vereinigten Staaten – wahrscheinlich noch eine zu vorsichtige Schätzung ist. In Nordamerika gibt es insgesamt rund zwanzig Milliarden Vögel. Rechnet man weitere 120 Millionen hinzu, die jedes Jahr der Jagd zum Opfer fallen – jenem Zeitvertreib, der die Mammute und Wandertauben auslöschte –, addieren sich diese Zahlen zu einer bedenklichen Summe. Und es gibt noch eine weitere Geißel, der unzählige Vögel zum Opfer fallen und die uns überleben wird – es sei denn, ihr gehen vorher die Vögel aus.
Das verhätschelte Raubtier
Die Zoologen Stanley Temple und John Coleman brauchten ihren Heimatstaat nicht zu verlassen, um Anfang der neunziger Jahre allgemeine Schlussfolgerungen aus ihrer Feldforschung zu ziehen. Ihr Gegenstand war ein offenes Geheimnis – ein Thema, das totgeschwiegen wird, weil kaum jemand zugeben will, dass fast ein Drittel aller Haushalte so gut wie überall einen oder mehrere Serienmörder beherbergen. Der Bösewicht ist das schnurrende Maskottchen, dass sich einst ebenso majestätisch in ägyptischen Tempeln rekelte wie heute auf unseren Polstermöbeln, unsere Zuneigung nur akzeptiert, wenn es ihm gefällt, wachend und schlafend (ein Zustand, in dem es mehr als die Hälfte seines Lebens zubringt) eine unergründliche Ruhe ausstrahlt und uns dazu bringt, es zu nähren und zu pflegen.
Doch im Freien lässt Felis silvestris catus – die Hauskatze – den letzten Teil ihres wissenschaftlichen Namens fallen und wird wieder zu F. silvestris, der Wildkatze. Schließlich ist sie genetisch identisch mit den kleinen einheimischen Wildkatzen, die man noch hier und da, wenn auch selten, in Europa, Afrika und Teilen Asiens antrifft. Obwohl sich die Hauskatzen im Laufe einiger tausend Jahre klugerweise den bequemen Verhältnissen der Menschenwelt angepasst haben – Katzen, die sich nicht aus dem Haus wagen, leben im Allgemeinen viel länger –, haben sie, wie Temple und Coleman zu berichten wissen, nie ihren Jagdinstinkt verloren.
Möglicherweise haben sie ihn sogar noch intensiviert. Als die europäischen Kolonisten die ersten Exemplare mitbrachten, hatten amerikanische Vögel diese leisen, Bäume erkletternden und unversehens zupackenden Raubtiere noch nie gesehen. In Amerika gab es Rot- und Kanadaluchse, aber diese sich unaufhaltsam vermehrenden Einwanderer waren eine viel kleinere Version, nur ein Viertel so groß – auf entsetzliche Weise wie geschaffen für die riesige Singvogelpopulation. Wie einst die Clovis-Jäger töten sie nicht für den Lebensunterhalt, sondern aus purer Mordlust. »Auch wenn eine Katze regelmäßig von Menschen gefüttert wird«, schrieben Temple und Coleman, »verzichtet sie nicht auf die Jagd.«
Während sich in den letzten fünfzig Jahren die Weltbevölkerung verdoppelte, vermehrten sich die Katzen weit schneller. Anhand der Zahlen des Statistischen Bundesamtes der USA wiesen Temple und Coleman nach, dass die Zahl amerikanischer Katzen allein im Zeitraum von 1970 bis 1990 von 30 auf 60 Millionen kletterte. Die Gesamtzahl muss aber auch die verwilderten Hauskatzen einschließen, die städtische Kolonien bilden und auf Bauernhöfen und in Waldgebieten weit häufiger sind als in der Größe vergleichbare Raubtiere wie Wiesel, Waschbären, Stinktiere und Füchse, die beim Menschen keinen Schutz suchen können.
Verschiedene Studien schreiben streunenden Stadtkatzen bis zu 28 erlegte Vögel pro Jahr zu.
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