Die Welt ohne uns
Hofkatzen erwischen, so Temple und Coleman, noch weit mehr. Als sie ihre Ergebnisse mit allen verfügbaren Daten abglichen, schätzten sie, dass die etwa zwei Millionen frei herumstreunenden Katzen in den ländlichen Gebieten von Wisconsin mindestens 7,8 Millionen, wahrscheinlich aber mehr als 219 Millionen Vögel pro Jahr töten – und das allein im ländlichen Wisconsin.
USA-weit geht die Zahl vermutlich in die Milliarden. Egal wie hoch die tatsächliche Zahl ist, Katzen werden sehr gut in einer Welt ohne Menschen zurechtkommen, jener Menschen, die sie auf alle Kontinente und Inseln brachten, wo sie noch nicht zu Hause waren und wo sie sich allen einheimischen Raubtieren gleicher Größe zahlenmäßig und in jeder anderen Hinsicht als überlegen erwiesen. Lange nachdem wir verschwunden sind, werden die Singvögel noch ihre Last mit der Aufzucht ihrer Nachkommen haben.
In vierzig Jahren Vogelbeobachtung ist der Ornithologe Steve Hilty, Verfasser zweier der weltweit dicksten Vogelführer (über die Vögel von Kolumbien und Venezuela), Zeuge einiger seltsamer, vom Menschen verursachter Veränderungen geworden. Eine beobachtete er am Ufer eines Schmelzwassersees vor den Toren von Calafate, einer Stadt in Südargentinien, unweit der chilenischen Grenze: Gegenstand seines Interesses waren die Dominikanermöwen von der argentinischen Atlantikküste, die sich, da sie sich von Mülldeponien ernähren, über das Land verbreitet und ihre Zahl verzehnfacht haben. »Ich habe beobachtet, dass sie wie Spatzen, die sich auf heruntergefallene Körner stürzen, der Fährte menschlicher Abfälle quer durch Patagonien folgten. Heute ist die Zahl der Gänse auf den Binnenseen stark zurückgegangen, weil die Möwen sich über deren Gelege hermachen.«
Für eine Welt ohne Müll, Jagdgewehre und Fensterglas sagt Hilty eine Rückkehr der Vogelpopulationen zu ihrem einstigen Gleichgewicht voraus. Die Wiederkehr mancher Verhaltensmuster wird vielleicht länger dauern, weil sich der Temperaturwandel eigenartig auf ihre Verbreitungsgebiete ausgewirkt hat. Einige Rote Spottdrosseln im Südosten der Vereinigten Staaten machen sich nicht mehr die Mühe fortzuziehen, während die Rotschulterstärlinge sogar auf Zentralamerika verzichten, um im Süden Kanadas zu überwintern, wo sie jetzt einer klassischen Art aus dem Süden der Vereinigten Staaten begegnen, der Spottdrossel.
Als professioneller Führer für Vogelfreunde hat Hilty beobachtet, wie der allmähliche Rückgang der Singvögel in einen jähen Sturz überging, der selbst unbeteiligten Zeitgenossen das Verstummen der Natur zu Bewusstsein brachte. Zu den verschwundenen Arten seines Heimatstaates Missouri gehört auch der Pappelwaldsänger mit seinem blauen Rücken- und weißen Brustgefieder. Einst verließen Pappelwaldsänger jeden Herbst die Ozarks, ein Hochlandplateau, und suchten in Venezuela, Kolumbien und Ecuador die Wälder auf halber Höhe der Anden auf. Da aber jedes Jahr immer größere Teile dieser Wälder den Anbauflächen für Kaffee – oder Koka – weichen müssen, sind Hunderttausende von eintreffenden Vögeln gezwungen, sich auf immer weiter schrumpfenden Überwinterungsgründen zusammenzudrängen, wo es nicht für alle genügend Nahrung gibt.
Eines aber tröstet ihn: »In Südamerika sind nur sehr wenige Vögel wirklich ausgestorben.« Das ist so bemerkenswert, weil es in Südamerika mehr Vogelarten gibt als irgendwo sonst. Als die beiden amerikanischen Halbkontinente vor drei Millionen Jahren vereint wurden, wirkte das gleich unterhalb der Nahtstelle Panama gelegene Kolumbien wie eine riesige Artenfalle, die über jede denkbare ökologische Nische verfügte, vom Küstendschungel bis zum Hochmoor. Kolumbiens Spitzenposition – mehr als 1700 Vogelarten – wird jedoch gelegentlich von Ornithologen in Ecuador und Peru bezweifelt, woraus folgt, dass offenbar noch weitere wichtige Lebensräume erhalten sind. Allerdings viel zu häufig in stark reduzierter Form: Ecuadors Spiegelbuschammer lebt heute nur noch in einem einzigen Andental. Der Grauwangen-Waldsänger im Nordosten Venezuelas muss sich mit einer Bergkuppe zufriedengeben. Und die in Brasilien beheimatete Rubinkehltangare findet sich nur noch auf einer einzigen Hazienda im Norden von Rio.
In einer Welt ohne Menschen würden die überlebenden Vögel rasch für eine Neuansaat der südamerikanischen Bäume sorgen, die durch die endlosen Reihen eines äthiopischen Einwanderers verdrängt wurden – den
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