Die Welt ohne uns
hören, das nichts Beruhigendes mehr für ihn hatte. Der Wind, der durch die offenen Fenster strich, klang wie ein Jammern. Das anschwellende Gurren der Tauben betäubte Cavinder. Beängstigend war auch die Abwesenheit von Stimmen: kein menschlicher Laut, der von den Wänden zurückgeworfen wurde. Ständig lauschte er, ob türkische Soldaten kämen, die den Befehl hatten, auf Plünderer zu schießen. Er war sich nicht sicher, wie viele der patrouillierenden Wachen wussten, dass er hier sein durfte, oder ihm Gelegenheit geben würden, es zu beweisen.
Wie sich herausstellte, war das kein Problem. Nur selten erblickte er Posten oder Streifen. Er hatte großes Verständnis für sie. Wer begab sich schon freiwillig in eine solche Gruft?
Als Metin Münir Varoscha sah, vier Jahre nachdem Allan Cavinder seinen Renovierungsauftrag erledigt hatte, waren bereits Dächer eingestürzt, und die Bäume wuchsen direkt aus den Häusern. Münir, einer der bekanntesten türkischen Zeitungskolumnisten, ist ein türkischer Zypriot, der zum Studium nach Istanbul ging, nach Hause zurückkehrte, um zu kämpfen, als die Auseinandersetzungen begannen, und dann wieder in die Türkei ging, als die Unruhen nicht enden wollten. 1980 wurde ihm als erstem Journalisten gestattet, sich ein paar Stunden lang in Varoscha umzusehen.
Als Erstes fiel ihm die zerfetzte Wäsche auf, die noch immer auf den Leinen hing. Doch am meisten beeindruckte ihn nicht etwa der Mangel an Leben, sondern dessen pulsierende Gegenwart. Nachdem die Menschen, die Varoscha erbaut hatten, die Stadt verlassen hatten, nahm die Natur sie ohne Umschweife wieder in Besitz. Varoscha, knapp hundert Kilometer von Syrien und Libanon entfernt, hat ein zu mildes Klima für einen Frost-Tauwetter-Zyklus, trotzdem wurde sein Pflaster aufgesprengt. Zu Münirs Verwunderung gelang das nicht nur Bäumen, sondern auch Blumen. Winzige Samen wilder Alpenveilchen hatten sich in Rissen eingenistet, gekeimt und dann ganze Betonplatten beiseitegestemmt. Die Straßen waren jetzt übersät mit den weißen Blütenständen der Alpenveilchen und ihren hübschen vielfach gefleckten Blättern.
»Da begreift man«, schrieb Münir für seine Leser in der Türkei, »was die Taoisten meinen, wenn sie sagen, dass Weiches stärker als Hartes sei.«
Weitere zwanzig Jahre vergingen. Die Jahrtausendwende kam und ging vorüber. Einst hatten die türkischen Zyprioten sich darauf verlassen, dass Varoscha, zu wertvoll, um es einfach aufzugeben, die Griechen an den Verhandlungstisch zwingen würde. Keine der beiden Seiten hätte sich damals träumen lassen, dass es dreißig Jahre später die Türkische Republik Nordzypern noch geben würde, nicht nur von der Republik Zypern, sondern auch vom Rest der Welt abgeschnitten, noch immer von keinem Staat mit Ausnahme der Türkei anerkannt. Sogar die UN-Friedenstruppen befinden sich noch genau dort, wo sie 1974 waren: Sie patrouillieren lustlos entlang der Grünen Linie in Varoscha und putzen gelegentlich zwei noch immer beschlagnahmte, noch immer nagelneue Toyotas Baujahr 1974.
Nichts hat sich verändert mit Ausnahme von Varoscha, das sich nun in einem fortgeschrittenen Zustand des Verfalls befindet. Seine Umzäunung und der Stacheldraht sind gleichmäßig von Rost befallen, doch es gibt nichts mehr zu schützen als eine Geisterstadt. Gelegentlich findet man Coca-Cola-Plakate und Schilder mit Preislisten an den Türen von Nachtklubs, die seit mehr als dreißig Jahren keine Gäste gesehen haben und auch keine mehr sehen werden. Fensterflügel stehen offen, das Glas in den abblätternden Rahmen längst zersprungen. Verblendplatten aus Kalkstein sind von den Häuserfronten geplatzt und liegen kaputt am Boden. Aus den Mauern sind große Stücke herausgebrochen und geben den Blick auf leere Zimmer frei, deren Möbel sich schon vor langer Zeit scheinbar wie von Geisterhand verflüchtigt haben. Die Farbe ist stumpf geworden, der Verputz darunter hat eine dumpfgelbliche Altersfärbung angenommen, soweit er überhaupt noch vorhanden ist, denn hier und da zeigen herausgefallene Ziegelsteine an, dass sich der Mörtel bereits aufgelöst hat.
Vom Hin und Her der Tauben abgesehen, bewegt sich nur noch der knirschende Rotor der einzigen noch funktionierenden Windkraftanlage. Die Hotels – bei einigen sind die Balkone herabgestürzt und haben im Fallen weitere schwere Schäden angerichtet – säumen noch immer die Riviera, die einst Cannes und Acapulco nacheifern wollte. Hier, darin
Weitere Kostenlose Bücher