Die Welt ohne uns
Seevögel verwechselten sie die bunten Pellets mit Fischeiern und die gelbbraunen mit Krill. Niemand weiß, wie viele Billiarden kleiner Stückchen – überzogen mit chemischen Substanzen der Kosmetikindustrie und von mundgerechter Größe für die kleinen Lebewesen, die größeren als Nahrung dienen – fortlaufend in die Ozeane geschwemmt wurden.
Was bedeutete das für das Meer, das Ökosystem, die Zukunft? Alle diese Kunststoffe waren in kaum mehr als fünfzig Jahren aufgekommen. Würden sich ihre chemischen Bestandteile oder Zusatzstoffe – beispielsweise metallische Farbstoffe wie Kupfer – beim Aufstieg in der Nahrungskette konzentrieren und die Evolution verändern? Würden sie lange genug erhalten bleiben, um Eingang in den Fossilbeleg zu finden? Würden Geologen in Jahrmillionen Teile von Barbiepuppen in dem Kieselgestein finden, das sich in Ablagerungen auf dem Meeresgrund gebildet hatte? Würden diese Stücke so gut erhalten sein, dass sie sich wie Dinosaurierknochen zusammenfügen ließen? Oder würden sie vorher zerfallen und Kohlenwasserstoffe freisetzen, die noch über lange Zeiträume aus einem riesigen Plastikfriedhof in Neptuns Reich aufsteigen würden, während von Barbie und Ken nur die versteinerten Abdrücke blieben?
Moore und Thompson befragten Werkstoffexperten. Der Geochemiker Hideshige Takada von der Universität Tokio, ein Spezialist für EDCs – Chemikalien, die eine Störung des Hormonhaushalts verursachen, auch Genderbender genannt –, hatte auf einer grausigen Expedition persönlich untersucht, welche unheilträchtigen Stoffe die Müllkippen Südostasiens absondern. Jetzt untersuchte er die Kunststoffe, die man aus dem Japanischen Meer und der Tokiobucht gefischt hatte, und fand heraus, dass Pellets und andere Kunststofffragmente für Umweltgifte wie DDT und PCBs die Funktion von Magneten und Schwämmen haben.
Die hochgiftigen Polychlorierten Biphenyle – PCBs –, die als Weichmacher in der Kunststoffherstellung verwendet wurden, sind durch die Stockholmer Konvention vom 22. Mai 2001 weltweit verboten; neben anderem Unheil, das sie anrichteten, waren sie auch für Hormonstörungen verantwortlich, die Hermaphroditismus bei Fischen und Eisbären bewirkten. Wie Pillen mit verzögerter Wirkstofffreisetzung wird das vor dem Verbot hergestellte Kunststofftreibgut jedoch noch jahrhundertelang PCBs ins Meer abgeben. Doch Takada entdeckte noch etwas anderes: Frei flottierende Gifte verschiedenster Herkunft – von Kopierpapier, Automobilschmierstoffen, flüssigen Kühlmitteln, alten Leuchtstoffröhren und von Fabriken und Chemikalienherstellern verursachte Einleitungen in Bäche und Flüsse – setzen sich gern an im Wasser treibenden Kunststoffteilen fest.
In einer Studie untersuchte man die direkte Beziehung zwischen aufgenommenen Kunststoffmengen und dem PCB-Gehalt im Fettgewebe von Sturmtauchern. Das Ausmaß war erstaunlich. Takada und seine Kollegen stellten fest, dass die von den Vögeln verzehrten Kunststoffpellets Giftkonzentrationen enthielten, die bis zu einer Million Mal höher waren als ihr durchschnittliches Vorkommen im Meerwasser.
2005 schätzte Moore die Fläche des pazifischen Müllstrudels auf 25 Millionen Quadratkilometer – fast so groß wie Afrika. Und er war nicht der Einzige seiner Art: Der Planet weist noch sechs weitere große subtropische Wirbel auf, die alle die hässlichen Reste unserer Zivilisation mit sich führen. Es war, als wäre der Kunststoff nach dem Zweiten Weltkrieg wie aus dem Nichts explodiert und befände sich nun wie das Universum nach dem Urknall in einer unaufhörlichen Expansion. Selbst wenn die gesamte Kunststoffproduktion schlagartig eingestellt würde, bliebe dort draußen eine erstaunliche Menge an erstaunlich persistenten Stoffen. Plastikabfall ist nach Moores Überzeugung heute das häufigste Oberflächenmerkmal der Weltmeere. Wie lange wird es Bestand haben? Gibt es irgendwelche unschädlichen, weniger für die Ewigkeit bestimmten Ersatzstoffe, auf die unsere Zivilisation umsteigen könnte, damit unser Planet nicht immer weiter in Plastik verpackt wird?
In diesem Herbst organisierten Moore, Thompson und Takada in Los Angeles ein Gipfeltreffen zur marinen Kunststoffproblematik mit Dr. Anthony Andrady, einem Forscher am Research Triangle in North Carolina, der in Sri Lanka geboren wurde, einem der Gummi erzeugenden Länder Südasiens. Als er sich während seines Promotionsstudiums mit den Polymeren beschäftigte, änderte er
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