Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
aus, als hätten sie die ganze Zeit davor gewarnt. Der Gazastreifen wird bombardiert. In Kalifornien wüten Waldbrände. Doch in Gedanken kommt sie immer wieder auf das Telefongespräch zurück, das sie kürzlich mit Clara geführt hat.
Als sie in Claras Alter war, haben die Leute noch »Liebe machen« statt Sex gesagt, was romantisch klang, oder »miteinander schlafen«, was nett und kuschelig klang. Und später, na gut, als das mit der sexuellen Befreiung anfing, haben viele »bumsen« gesagt, als wäre es ein politisches Statement, die Dekolonisierung der Sprache, die Absage an die Prüderie undso weiter. Aber »vögeln«! Sie schaudert. Wie kann ihre eigene Tochter ihr so etwas vorwerfen?
Als der Zugkellner vorbeikommt, bestellt sie einen großen Becher Tee und zum Trost einen Schokoladenmuffin, den sie sich mit Oolie teilt.
Als sie schließlich vor dem Queens’ College stehen, ist Serge immer noch nicht ans Telefon gegangen, also fragt sie im Pförtnerhaus nach seiner Zimmernummer.
Der Mann hinter dem Tresen sieht sie seltsam an. »Er ist schon seit einem Jahr nicht mehr hier.«
»Ach. Wirklich? Er heißt Serge Free. F-r-e-e.«
»Ja, ich weiß, wie man das buchstabiert. Er ist letzten Sommer gegangen.«
»Poppen die da oben immer noch?«, zwitschert Oolie.
»Nein. Ich glaube nicht.« Doros Gehirn versucht die unverdauliche Information zu verarbeiten.
»Können wir runter zum Fluss gehen und gucken, ob der schöne Mann noch da ist?«
»Nein. Komm, wir besuchen Molly und das Baby.«
»Ja! Ich will das Bebie sehen!«
Mollys und Ottos Wohnung über dem Friseurgeschäft auf der Mill Road ist winzig, warm und erfüllt von dem süßlich müffelnden Babygeruch, der bei Doro gleich Gefühlswallungen auslöst. Molly begrüßt sie an der Tür, mit verwuschelten Haaren, barfuß, in einem Bademantel mit Milchflecken. Das Baby hat sie im Bademantel dabei, wo es vor sich hin gluckert.
»Oh, ist die süß!«
»Was macht sie da?«, fragt Oolie.
»Sie trinkt, Liebes. Da bekommen Babys ihre Milch her.«
»Igitt!«
Sie setzen sich auf ein kleines Sofa im Wohnzimmer, das auch als Esszimmer, Küche und Ottos Büro dient, während Mollydas Baby weiterstillt. Eine lange rotbraune Locke fällt ihr über die Wange auf die Brust, und Doro muss an Moira denken.
»Es ist schön, mal Besuch zu bekommen«, sagt Molly. »Otto ist am Wochenende häufig weg. Manchmal kommt Jen vorbei. Ottos Mutter, du kennst sie doch, oder?«
»Oh ja, natürlich erinnere ich mich an Jen.«
»Sie wohnen nicht weit weg, in Peterborough. Jen und Nick. Er unterrichtet noch. Sie arbeitet als Anwältin.«
»Jen und Nick sind noch zusammen?«
»Ja, und sie erzählt immer lustige Geschichten aus der Kommune. Sie sagt, ihr wärt alle ziemlich verrückt gewesen!«
»Mhm. Manche verrückter als andere.« Doro kann sich lebhaft erinnern, wie Jen nur mit einer Unterhose bekleidet im Garten den Urschrei übte. Und jetzt ist sie Anwältin, ja?
»Und was macht Otto so?«
»Otto ist auf einer Konferenz für Free Open-Source Software, seine große Leidenschaft. Wir haben sogar unser Baby danach genannt: Flossie nach F. O. S. S. – das L haben seine französischen Kollegen reingeworfen, damit es weiblicher klingt.«
»Ha!« Dann hat die ganze antipatriarchalische Erziehung wohl nicht viel geändert. »Darf ich sie mal halten?«
Molly legt Doro das Baby in den Arm und geht Kaffee kochen. Doro sieht in seine dunklen, glasigen Augen und denkt an Clara, Serge, Otto, Star und Oolie – so viele Babys, die sie gehalten hat –, ein warmes, schläfriges Bündel neuen Lebens. Wenn Clara und Serge nur endlich in die Gänge kämen!
»Hallo Floss-Floss-Flossie!« Sie kommt mit dem Gesicht näher, damit das Baby sie sehen kann, lächelt breit und wackelt mit dem Kopf.
»Upp!«, sagt Flossie, und ein wenig geronnene Milch läuft ihr aus dem Mund.
»Ich will sie auch mal halten!« Oolie versucht nach Flossie zu greifen.
»Setz dich. Nicht ziehen!« Eine kurze Erinnerung an den unglücklichenHamstervorfall vor vielen Jahren schießt durch Doros Kopf. »Und jetzt streck vorsichtig die Arme aus!«
»Soll ich ihr auch den Busen geben?«
»Nein, nicht nötig.«
»Upp!«, sagt Flossie.
»Ist sie nicht süß? Ich hätte viel lieber ein Bebie als einen Hamster.« Oolie blickt hinunter in das kleine Babygesicht, das aussieht, als wäre es eingeschlafen.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, mit Oolie hierherzukommen. Doros Magen zieht sich zusammen, weil sie
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