Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
außer Kontrolle zu geraten, wie Zahlen es manchmal tun.
Vielleicht war der Barolo doch keine so gute Idee. Vom Zusammenprall des starken Weins mit seinen unlösbaren Problemen fühlt sich sein Hirn angeschlagen an, und seine Brust droht zu bersten, als würde ihm jemand ein Kissen aufs Gesicht drücken. Einem Impuls folgend greift er nach dem Regenmantel, steigt in den Fahrstuhl und tritt hinaus auf die leere Straße. Der Himmel ist klar, doch auf dem Pflaster stehen noch tückische Pfützen. Vorsichtig weicht er ihnen aus. Die vom Sturm gespülte Luft riecht nach Ozon und nassem Laub. Wie berauscht geht er mit schnellen Schritten durch die Nacht, ohne Ziel, hier von einem hell erleuchteten Café angezogen, dort von einer dunklen Gasse, in der im Laternenschein das Kopfsteinpflaster glänzt – bis er wieder tief und langsam atmet und das Dröhnen in seinem Kopf zu einem leichten Kopfschmerz verklingt.
Auf dem Rückweg bleibt er an einem Geldautomaten auf der Cheapside stehen, um Geld fürs Wochenende abzuheben. Als er seine vierstellige PIN-Nummer 0248 eingibt – Monat und Jahr von Doros Geburt –, kommt ihm ein Gedanke. Er weiß,dass man Geburtsdaten eigentlich nicht als Passwörter benutzen sollte, aber das tut jeder, oder? Schließlich gibt es so viele verschiedene Darstellungsformen und Kombinationen. So viele – und doch sind sie berechenbar. Auf einmal erscheint ihm Chickens Kalenderdatei mit den Geburts- und Jahrestagen in ganz neuem Licht. Hier könnte der Schlüssel liegen, den er braucht. Zwar hat er weder das Knowhow noch die Geduld, ihn zu identifizieren. Aber er kennt einen Mann, der über beides verfügt.
Otto ist nach dem Examen am Churchill College geblieben, um Software-Systeme in den abgelegensten Winkeln des Computer-Nerdtums zu studieren, und treibt sich in jenen abgefahrenen Galaxien herum, wo Mathematik, Programmiersprachen und Technologie zusammenkommen. Wenn Otto erzählt, was er macht, klingt es für Serge wie Science-Fiction. Er besucht Symposien zu Hypervisor-Chiffrierung und Kryptovirologie und ist, wie viele Cyber-Nerds, mehr an den technologischen Aspekten als an den ethischen Implikationen interessiert. Als Student hat er einmal einen Sniffer designt, um die Fragen des schriftlichen Theologie-Examens auszuspionieren, die er anschließend am Schwarzen Brett aushängte; das war seine Art von Humor.
»Er ist bei einer Konferenz.« Mollys Stimme klingt matt und nervös. »Ist alles in Ordnung? Ich meine, mit dem Geld?«
»Klar«, sagt Serge. »Kein Stress. Ich rufe am Montag noch mal an.«
Der Gedanke, sich Otto anzuvertrauen – dem geschwätzigen, leicht erregbaren, unzuverlässigen kleinen Otto –, ist beängstigend. Aber hat er eine Wahl?
Clara
Paukenröhrchen
Clara hält den Kopf unter den warmen Strahl der Dusche, massiert sich das Shampoo ins Haar und fragt sich, wie es kommt – trotz aller feministischen Rhetorik in Solidarity Hall, trotz der Tatsache, dass ihr Schulabschluss fast so gut wie Serges war – wie es also kommt, dass Serge auf und davon nach Cambridge gegangen ist, nie nach Hause kommt und sich mit seinen verschrobenen Freunden in diesem mittelalterlichen Wunderland seinen seltsamen Vergnügungen widmet, während sie hier hocken geblieben ist, immer noch mit einem Bein in Doncaster, an ihre durchgeknallte Familie gekettet, immer noch versucht, vernachlässigte Kinder zu hüten (die es ihr danken, indem sie ihr das Portemonnaie klauen), immer noch versucht, den Idealen von Solidarity Hall gerecht zu werden. Der Gedanke »unfair« taucht in ihrem Kopf auf, doch sie schiebt ihn energisch beiseite. »Unfair« ist etwas für Versager und Jammerlappen, nicht für sie.
Das Problem ist, als ältestes Kind der Kommune wurde sie nach mehreren teilweise gegensätzlichen Idealen erzogen. Feminismus, Marxismus, Vegetarismus, Autonomie, Verantwortung, Spontaneität, Mut, Rücksicht, Selbstverwirklichung, Selbstvertrauen, Selbstlosigkeit. Es war immer jemand da, der ihr sagte, sie solle ihr Gemüse aufessen, sich die Zähne putzen, ein Buch lesen, rausgehen und spielen, denen helfen, die sich nicht selbst helfen können, sie selbst sein und nicht darauf achten,was andere sagen – es war, als hätte sich ein halbes Dutzend streitlustige gute Feen in die Haare gekriegt, während sie versuchten, Clara mit ihren Gaben zu überhäufen.
Sie spült sich den nach Kokos duftenden Schaum aus den Haaren und wickelt sich ein Handtuch um den Kopf, wobei sie sich mit einer um den
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