Die Widmung: Roman (German Edition)
verbarg. Deshalb wollte sie heute unangemeldet hereinschneien, um selbst einmal nach dem Rechten zu schauen. Aber jetzt war es zu spät, um zuerst nach Salem zu fahren. Sie musste nach Lillys Beerdigung zu Finch.
Sie änderte ihre Strecke und fuhr nun über die kurvige Küstenstraße entlang der goldenen Strandsichel, die sich von Lynn durch Swampscott bis zur Stadtgrenze erstreckte, direkt nach Marblehead. In der letzten Minute beschloss sie, eine Abkürzung mitten durch Lynn zu nehmen, Baustellen hin oder her. Es war Sommer. Überall arbeiteten Bautrupps, und die Straßenpolizisten, die deshalb zusätzlich eingesetzt werden mussten, regelten schläfrig den Verkehr.
Zee war hier schon lange nicht mehr gefahren. Die Straßen sahen zum größten Teil noch so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Jeder Block wurde gesäumt von Imbissstuben, in denen es Roastbeef oder Pizza gab, daneben lagen Minisupermärkte, Nagelstudios und hin und wieder auch ein Spirituosengeschäft. Es waren im Grunde immer die gleichen Läden. Nur die Volkszugehörigkeit hatte sich geändert. Kleine Lebensmittelläden reihten sich aneinander, die Schilder waren spanisch, koreanisch, arabisch, russisch. Die Bevölkerung von Lynn war schon immer bunt gemischt gewesen. Momentan wurden in den Schulen dort mehr als vierzig Sprachen gesprochen. Zee hatte vergessen, wer ihr das erzählt hatte. Wahrscheinlich war es ihr Onkel Mickey gewesen.
Die Familie ihrer Mutter, und dazu gehörte auch Onkel Mickey, kam aus Lynn, ursprünglich stammten sie allerdings aus der irischen Grafschaft Derry. Sie waren aus Irland eingewandert, um in einer Fabrik an der Eastern Avenue zu arbeiten, die Schuhkartons herstellte.
Sie hatten alle der IRA angehört, zumindest die beiden Brüder, Onkel Mickey und sein Bruder Liam, der in Irland bei einer Explosion zu Tode gekommen war. Zee erinnerte sich, wie ihre Mutter ihr erzählt hatte, sie seien ganz plötzlich emigriert. In Anbetracht von Maureens Widerwillen, mehr darüber zu verraten, fragte sich Zee doch nach den genauen Gegebenheiten. Es passte gar nicht zu Maureens Charakter, mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten, wenn sie eine Geschichte erzählte. Wie auch immer es sich ereignet hatte, in Irland war die Familie nicht mehr sicher gewesen. Sie hatten das Land über Nacht verlassen müssen und nahmen nur mit, was sie bei sich tragen konnten.
Maureen hatte ihr das alles in einem so nüchternen Tonfall erzählt, dass Zee ihr die Geschichte nie ganz abgenommen hatte.
»Täusche dich nicht«, hatte ihre Mutter oft gesagt. »Jeder einzelne von uns ist dazu fähig, einen Mord zu begehen. Unter bestimmten Umständen liegt es in jedem von uns, ein Leben zu nehmen.«
Zee rätselte, ob ihre Mutter mit »jeder von uns« die ganze Menschheit oder lediglich den ganzen Doherty-Clan gemeint hatte. Oft war sie versucht gewesen, diese Frage zu stellen, aber sie hatte es nie getan. Irgendwann beschloss sie, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte.
Sie hatten an der Eastern Avenue gewohnt, in der Nähe der Fabrik, aber weiter die Straße hinunter, mehr zum Strand hin. Zee bezweifelte, dass sie das Haus jetzt noch wiederfinden würde. Der Tod ihrer Großmutter lag schon so lange zurück. Ihre Mutter starb nur ein paar Jahre danach, kurz nachdem Zee dreizehn geworden war. Bis auf Zee war Mickey der einzige Doherty, der noch übrig war.
Die Fabrik, in der sie einst gearbeitet hatten, hatte längst dichtgemacht. Vorne auf dem Gebäude war ein Schild mit der Aufschrift KING’S BEACH APARTMENTS angebracht. Genau gegenüber lag Monte’s Restaurant, wo sie früher immer mit ihrem Vater und Onkel Mickey in ihrer Piratenzeit Pizza gegessen hatte.
Nachdem ihre Großmutter gestorben war, war Onkel Mickey nach Salem gezogen. Er wollte näher bei seiner Schwester sein, sagte er. Mickey konnte ein Boot steuern wie der beste aller Skipper, aber Autofahren hatte er nie gelernt. Obwohl Lynn gleich der nächste Ort war, fand er, dass es zu weit von dem Rest seiner Familie entfernt lag. Und mit dem Bus fuhr er nicht gerne. Maureen hatte sich nur wenige Jahre nach seinem Umzug nach Salem umgebracht, aber Mickey blieb trotzdem. Er liebte die Hexenstadt mittlerweile. Er war der geborene Unternehmer und Geschäftsmann. Auch Süßholz raspeln konnte er hervorragend. Als Salem sich ein neues Image gab, sprang Mickey gleich auf den Zug auf. Heute betrieb er einen Hexenladen am Pickering Wharf, mehrere Spukhäuser und ein Piratenmuseum. Es war
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