Die Widmung: Roman (German Edition)
gut gelaufen. In Salem nannte man Mickey Doherty freundlich den »Piratenkönig«.
Lynn, Lynn, Sünde im Sinn. Zee sagte im Geiste das alte Gedicht auf. Am Haus der Heilsarmee hing ein Schild mit den Worten: GOTT IM SINN . Ständig wurde versucht, ein neues Bild von Lynn zu vermitteln. Zee mochte es so, wie es war. Für sie war es ein echter Ort, in dem echte Menschen ein echtes Leben führten.
Sie konnte den Lynn Beach von hier aus riechen, faulig und schwül. An der Stadtgrenze von Swampscott fiel ihr ein kleines Geschäft auf, in dem eine Frau an einer Nähmaschine im Fenster saß. Vor dem Laden hing ein handgeschriebenes Schild, in schräg abfallender Schrift stand darauf: ÄNDERUNGEN MÄNNLICH / WEIBLICH .
Sünde im Sinn. Es gab schon einen Grund, weshalb sie sich hier zugehörig fühlte, dachte Zee. Wie es bei Sünden so ist, hatte auch Zee ihren Anteil daran. Sie hatte wegen vieler Dinge ein schlechtes Gewissen, nicht zuletzt wegen der Frage, die Lilly ihr kurz vor ihrem Tod gestellt hatte. Lillys Frage hatte Zee dermaßen an Maureen denken lassen, dass sie Mattei nichts davon erzählt hatte. Im Rückblick hätte ihr das ein Warnhinweis sein sollen über Lilly, aber stattdessen traf die Frage sie viel persönlicher, wie ein Fausthieb in den Magen.
Als sie Lilly Braedon zum letzten Mal gesehen hatte, hatte sich Zee so bemüht, Lillys riskantes Verhalten zu rationalisieren, dass die Frage sie völlig unvorbereitet erwischte. Gerade als die Sitzung vorüber war und Lilly zur Tür hinausging, wandte sie sich noch einmal zu Zee um und fragte: »Glauben Sie gar nicht an die wahre Liebe?«
4
Als Lillys Mann sie Mattei übergab, bekam sie Klonopin in hoher Dosierung. Ihre Angstzustände schwächten sie mittlerweile so sehr, dass der Internist, zu dem ihr Mann sie zunächst gebracht hatte, ihr Xanax verschrieben hatte und dann, als das nicht wirkte, immer höhere Dosen Clonazepam. Lilly konnte kaum sprechen. Sie konnte nicht Auto fahren. Ihre Pupillen sahen aus wie Nadelspitzen. Aber Angst hatte sie keine mehr. Sie zeigte die Ruhe eines Zombies.
Es stellte sich heraus, dass Lilly seit einem Jahr praktisch gar nicht mehr das Auto benutzt hatte, was gelinde gesagt umständlich war mit einem Ehemann und zwei kleinen Kindern, die versorgt werden mussten. Statt die Kinder zum Schwimmen in den Yachtclub zu fahren, lief Lilly mit ihnen zu Fuß zum Gashouse Beach, der ihr lieber war, wie sie behauptete. Aber die Kinder vermissten ihre Freunde und den Schwimmkurs, den sie belegt hatten. Lilly hatte ein so ungutes Gefühl wegen des Meers – eine entsetzliche Angst davor, dass es ihr die Kinder nehmen, dass die Brandung eine Monsterwelle schicken oder dass Überreste einer Roten Algenflut durch ihre Haut dringen und sie infizieren würde – und so ließ sie sie am Strand noch nicht einmal mit den Füßen ins Wasser. Sie durften nur am felsigen Ufer sitzen, mit dem bisschen Sand spielen, den sie dort fanden, und Burgen bauen, und dabei waren sie mit so viel Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 45 eingerieben, dass der wehende Sand ihre bleichen Körper überzog und sie bald aussahen wie Zuckerkekse.
Im August bekam Lillys Mann Mitleid mit ihr und stellte ein Kindermädchen ein. Damit nahm das Unheil seinen Lauf.
Lilly überließ dem Kindermädchen nur zu gerne ihren Geländewagen. Sie freute sich, ihn los zu sein, denn es war ihr lieber, in der Stadt herumzulaufen. Die Lebensmittel ließ sie sich von Peapod liefern. Und dann fing sie an, auf und ab zu gehen.
Zuerst beschränkte sie ihre Gänge auf das Haus. Sie wanderte die Treppen hinauf und hinunter. Sie zog Kreise vom Eingang zur Küche, durch die Glasveranda in das Esszimmer und die Bibliothek. Sie stieg alle drei Treppen hinauf, mied den Keller, schritt aber den rauen, unbehandelten Boden des Speichers ab, Ferse und Zehen tappten im Rhythmus. Sie schlief wenig und lief auch nachts durch das Haus, bis das Kindermädchen klagte, es spuke womöglich in dem alten Gebäude, weil über der Zimmerdecke Schritte zu hören waren.
Als das Kindermädchen die Kinder am nächsten Tag zum Unterricht fuhr, trugen Lillys Füße sie nach draußen, durch das Labyrinth der Straßen von Marblehead, vorbei an den welkenden Blumenkästen, in denen Immergrün und blaue Fächerblumen sich gegen die Augustdürre wehrten. An dem Tag, an dem es mit der Dürre endlich ein Ende hatte, verschwand sie rasch in der Buchhandlung Spirit of `76, um vor dem Regen geschützt zu sein. Doch dort war es
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